In diesem Haus herrscht das pure Chaos: Der 17-jährige Sohn Vincent (Spencer Bogaert) hat sich für einen Suizid-Versuch in seinem Zimmer verbarrikadiert. Die Mutter bricht in Panik aus, die hochschwangere Stieftochter kreischt, die andere stöhnt: «Nicht schon wieder!» Die Kamera filmt auf dem Kopf, verwackelt, kreuz und quer – ein Abbild des Familiendesasters.
So turbulent beginnt der Film «Vincent» des belgischen Regisseurs Christophe van Rompaey, der seine Weltpremiere auf der Piazza Grande am Filmfestival in Locarno feierte. Für weiteren Trubel sorgt Vincents Patentante Nikki (Alexandra Lamy), die uneingeladen auftaucht. Sie ist selbst am Rande des Nervenzusammenbruchs, kaschiert ihre Nöte aber mit überspannter Fröhlichkeit.
Gourmetkoch trifft auf Veganer
Vincent, radikaler Umweltaktivist und Veganer, verdreht zuerst nur die Augen und verzieht sich in sein Zimmer. Aber dann entdeckt der traurige Teenager, der das ganze Elend der Welt auf seinen schmalen Schultern trägt, die witzige und sensible Seite seiner Patentante. Kurzerhand schliesst er sich ihr auf der Fahrt nach Paris an. Sein Plan: In einer spektakulären Aktion will er sich vor dem Eiffelturm selbst verbrennen – um auf den prekären Zustand der Welt aufmerksam zu machen. Sein Vorhaben misslingt, und Nikki setzt sich zum Ziel, ihrem deprimierten Neffen ein wenig Lebensfreude einzuimpfen.
Sehr zum Leidwesen von Nikkis Lebenspartner, der als Gourmetkoch eine High-Society-Hochzeit in der Provence ausrichten muss. Einen kapitalismuskritischen Veganer kann er dort auf keinen Fall brauchen. Doch Nikki setzt sich durch, und Vincent darf mit – unter der Bedingung, dass er sich in einen schicken Anzug hüllt und schweigt. Aufs Maul sitzen mag der Teenager dann aber selbstredend nicht: An der Hochzeit gibt er vor den hohen Tieren der Pharmaindustrie den Revolutionär. Nikki, hochgradig genervt von ihrem Mann, freut sich an ihrem aufmüpfigen Neffen.
Der alltägliche Familienwahnsinn
Derweil rattern die restlichen Familienmitglieder im Kleinbus Richtung Provence, wo sie den entflohenen Sprössling aufgabeln wollen. Die Mutter (Barbara Sarafian) wird in ihrer Angst um den Sohn zur Furie, der Vater versucht zu beschwichtigen, die schwangere Teenager-Tochter steht kurz vor der Geburt und wird von Heulkrämpfen geschüttelt. Und die jüngste Tochter guckt desinteressiert aus dem Fenster.
Der 47-jährige, belgische Regisseur Christophe van Rompaey trägt in seinem dritten Spielfilm dick auf bei der Darstellung des alltäglichen Familienwahnsinns. Bei aller Überzeichnung gelingt ihm aber ein witzig-melancholischer und herzerwärmender Film, der die Nöte des konstant suizidgefährdeten Teenagers ernst nimmt. Durch den Lebensüberdruss seiner Patentante, der allmählich zutage tritt, entwickelt Vincent selbst neue Zuversicht – ohne dabei seinen jugendlichen Idealismus zu verlieren.
Vincent
Regie: Christophe van Rompaey
Ab Do, 4.5., im Kino