Der neue Film der Britin Sally Potter («Orlando», «The Party») ist nicht zuletzt ein schöner Beleg dafür, wie vielseitig und wandelbar Schauspieler sein können. Der Spanier Javier Bardem, der hier im Zentrum steht als der an Demenz leidende Schriftsteller Leo, spielt die Rolle entsprechend intensiv mit müdem und traurigem Ausdruck. Manchmal wird seine Darstellung geradezu zum quälerisch-schmerzhaften Erlebnis.
Man kennt den heute 51-jährigen Bardem durch Arbeiten mit seinem Landsmann Pedro Almodóvar, aber auch aus ganz anderen Zusammenhängen. Et-wa aus dem 23. James-Bond-Film «Skyfall» als Bösewicht und Gegenspieler von Daniel Craig. Oder als psychopathischen Killer in der Cormac-McCarthy-Adaption «No Country For Old Men» der Coen-Brüder.
«Was wäre gewesen, wenn …?»
Seit seinen Anfängen 1990 bewältigt Javier Bardem ein breites Spektrum an unterschiedlichsten Figuren. In Sally Potters «The Roads Not Taken» spielt er einen apathischen Charakter. Man sieht Leo morgens im Bett seiner schäbigen Wohnung im New Yorker Stadtteil Brooklyn liegen.
Die 22-jährige Elle Fanning, seit Kindheitstagen auf der Kinoleinwand, spielt an Bardems Seite. Sie ist die fürsorgende Tochter Molly. Einen Tag lang werden die beiden zusammen verbringen für Besuche beim Zahnarzt und beim Augenarzt. In das Geschehen an diesem einen Tag in Brooklyn sind immer wieder kurze Rückblenden montiert. Es geht zurück nach Mexiko, zu Szenen mit Leos Jugendliebe Dolores (Salma Hayek), und nach Griechenland, wo Leo sich eine Auszeit von seiner Familie nimmt.
Doch sind es Erinnerungen an wirkliche Erlebnisse? Oder handelt es sich vielmehr um Einbildungen, um Fantasien von anderen möglichen Lebenswegen? Welche Abzweigungen wurden allenfalls verpasst? Eindeutigkeit herrscht nicht, doch die Vermutung liegt nahe, dass es sich um Visionen handelt, um Optionen zur Frage: «Was wäre gewesen, wenn …?»
Schriftsteller Leo ist eine tragische Gestalt; ein Mann der Wörter, der diese nicht mehr findet, sich nur noch fragmentarisch artikulieren kann. Ein Mann, der sich und der Welt abhandengekommen ist. Die liebende Tochter hält zu ihm, kümmert sich und regt sich auch mal auf, wenn andere in Leos Anwesenheit von ihm in der dritten Person sprechen: «Er ist hier!» Während eine Person die Gegenfrage stellt: «Ist er wirklich hier?» Der Vater ist da und doch nicht da.
Erfahrungen mit der Demenz des Bruders
Erst gegen Ende des Films nennt Vater Leo ein allererstes Mal den Namen seiner Tochter Molly. Und diese ist am Schluss gleich doppelt in einem Bild zu sehen: Die eine Molly verlässt die Wohnung ihres Vaters, die andere bleibt bei ihm am Bett sitzen.
Erfahrungen mit der Demenz des eigenen Bruders haben Sally Potter zu ihrem Drehbuch für dieses bewegende Werk inspiriert. Sie hat auch die Filmmusik komponiert, gespielt unter anderem von Fred Frith an Gitarren und E-Bass und von ihr selber an den Keyboards.
The Roads Not Taken
Regie: Sally Potter
Ab Do, 30.7., im Kino