Film: Ein Leben ausser Atem
Schauspielerin Laure Calamy begeistert in Eric Gravels «À plein temps» als Alleinerziehende im Dauerstress.
Inhalt
Kulturtipp 22/2022
Letzte Aktualisierung:
14.10.2022
Urs Hangartner
Julie rennt. Vom Land pendelt sie in die Hauptstadt. Es ist jeden Tag dasselbe, ein Leben voller Hektik. Zuerst das Frühstück für die beiden Kinder, die sie bei der Tagesmutter abgibt – auch der wird es langsam zu viel. Dann los, bis sie im Pariser Fünf-Sterne-Hotel ihre Schicht als Teamleiterin der emsigen Zimmermädchen antritt. Hier heisst die Devise: «Wir müssen unsichtbar sein.» Als ob Julie es nicht schon genug schwer hätte, wird zu al...
Julie rennt. Vom Land pendelt sie in die Hauptstadt. Es ist jeden Tag dasselbe, ein Leben voller Hektik. Zuerst das Frühstück für die beiden Kinder, die sie bei der Tagesmutter abgibt – auch der wird es langsam zu viel. Dann los, bis sie im Pariser Fünf-Sterne-Hotel ihre Schicht als Teamleiterin der emsigen Zimmermädchen antritt. Hier heisst die Devise: «Wir müssen unsichtbar sein.» Als ob Julie es nicht schon genug schwer hätte, wird zu allem Übel ein ÖV-Generalstreik ausgerufen. Noch mehr Stress, denn in Paris herrscht das Verkehrschaos. Hektisch ist es auf dem Weg, hektisch ist es bei der Arbeit. In Windeseile müssen da Suiten für die nächste Belegung blitzblank wieder hergerichtet werden. Erst recht dann, wenn «der schottische Sänger» die Räume mit Fäkalien vandalisiert. Die aufopfernde Alltagsheldin Julie droht jeden Moment zusammenzubrechen. Sie steht ständig unter Anspannung, ist pausenlos in Bewegung. Sie scheint schier unmenschliche Energien aufzuwenden, um alles trotzdem und irgendwie zu schaffen.
Sozialkritisches Kino à la Ken Loach
Ihr gelingt bei alledem noch, eine Hüpfburg zu kaufen und selber zu transportieren, rechtzeitig zum Kindergeburtstag, den sie organisiert. Bei ihrer Arbeitsstelle will Julie nicht bleiben. Sie bewirbt sich anderswo, um in ihren angestammten Marketing-Beruf zu wechseln. Wird es ihr gelingen? Und kommt Julie irgendwann zur Ruhe? Man wird in diesem Film des Frankokanadiers Eric Gravel an das sozialkritische Kino des Briten Ken Loach oder der belgischen Regie-Brüder Dardenne erinnert: Da wie dort sind es filmische Geschichten über Einzelschickale im schwierigen sozialen Gefüge und in einer Arbeitswelt, die von den Menschen eigentlich viel zu viel abverlangt. Laure Calamy wurde für ihre intensive Parforce-Leistung als Julie letztes Jahr an der Mostra in Venedig mit dem Preis für die beste Darstellerin ausgezeichnet; Regisseur Eric Gravel erhielt die Auszeichnung für die beste Regie.
À plein temps
Regie: Eric Gravel, F 2021, 87 Min.
Ab Do, 20.10., im Kino