Ein Vierteljahrhundert ist er nun schon tot, und nach ihm ist keiner mehr gekommen, der ihm in der Schweizer Intellektuellen-Landschaft das Wasser reichen könnte. Was zu bedauern ist. Umso erfreulicher, dass dieser Film von Sabine Gisiger daran erinnert, was für ein Grosser Friedrich Dürrenmatt war, was er schriftstellerisch schuf, wie er malte und was er dachte. Er dachte gut, tief, prägnant-pointiert, war ein blendender Grosshumorist – im Leben, im Werk.
Dürrenmatt (1921–1990) wird sicht- und hörbar als Dichter und Denker; er sinniert und räsoniert, gibt druckreife Sentenzen von sich. Es finden sich auch kurze komische Reminiszenzen, etwa, wie er im Fernsehen vor laufender Live-Kamera einen Aschenbecher zum Brennen bringt. Oder, drei Wochen vor seinem Tod, die berühmte Havel-Rede («Die Schweiz als Gefängnis», 1990).
Der Film ist eine erweiterte Fassung von Sabine Gisigers Fernseh-Dokumentation «Dürrenmatt im Labyrinth». Versammelt ist bestehendes Dokumentationsmaterial; man war in den verschiedenen Archiven mit insgesamt 80 Stunden Ton- und Bildzeugnissen fündig geworden.
Produktiver Ballast
Das Exklusive dieses Films: Erstmals überhaupt sprechen nächste Angehörige öffentlich über Dürrenmatt: Seine Schwester Verena sowie die Kinder Peter (Pfarrer) und Ruth Dürrenmatt (Pianistin, Malerin) erinnern sich, zum Teil anekdotisch, zum Teil analytisch, aus der Distanz an ihren Bruder beziehungsweise Vater. Ihre Ausführungen bringen viel Persönliches an den Tag, wie man es bislang nicht kannte.
Dürrenmatt gibt Auskunft über sich selbst, über seine Kunst, seine Krankheit (Diabetes), den Tod, in Mundart oder in behäbigem Hochdeutsch. Er habe Angstgefühle gehabt, er sei ein Kind gewesen, «das darunter litt, dass es sehr viele Dinge nicht durchschaute». Und: «Ich war besessen, ich habe als Kind immer Katastrophen gezeichnet.» Die Familie als produktiver Ballast: «Ein Mann muss Ballast haben, damit er etwas zu ziehen hat, sonst bekommt er keinen Schwung.» Dürrenmatt über die Wahnsinns-Welt: «Ich sehe die Welt als Irrenhaus an. Ich bin ein geduldeter Verrückter.» Über Humor: «Wenn es einen Gott gibt, muss er einen unendlichen Humor haben.»
Der Film blickt auch auf Dürrenmatts Krisenzeit. Vier Jahrzehnte war er mit Lotti Dürrenmatt-Geisser zusammen. Der Tod seiner geliebten Gattin (1983) hat ihn erschüttert. Dürrenmatt: «Ich musste eine neue Art, eine neue Technik zu leben lernen.» Seiner Frau hat er ein schönes Liebesgedicht gewidmet, das man im Film hört: «Vor uns hintastend». Daher auch der Zusatztitel «Eine Liebesgeschichte».
Es ist ein wunderbarer postumer Porträtfilm geworden, der uns Dürrenmatt (wieder) näher bringt. Mit bekannten und einigen weniger bekannten Facetten eines grossen Schweizer Künstlers.
Dürrenmatt – Eine Liebesgeschichte
Regie: Sabine Gisiger
Ab Do, 15.10., im Kino