«Merkt euch, Freunde! Es gibt weder Unkraut noch schlechte Menschen. Es gibt bloss schlechte Gärtner.» Das sind Sätze aus Victor Hugos Roman «Les Misérables» («Die Elenden») aus dem Jahr 1862. Im Film von Ladj Ly wird das Zitat am Ende quasi als Motto nachgereicht.
Die Parallelen und Bezüge sind offensichtlich, und nicht zufällig hat der französische Regisseur Ladj Ly seinen brandaktuellen Film nach dem Roman von Victor Hugo benannt. Schauplatz ist die triste Pariser Banlieue-Gemeinde Montfermeil.
Hier drehen drei Polizisten ihre Runden im Auto. Stéphane Ruiz (Damien Bonnard) ist neu in der Truppe. Er hat sich von der Provinz nach Paris versetzen lassen, aus familiären Gründen. Er ist geschieden und möchte näher bei seinem Sohn sein. Chris (Alexis Manenti), ein latenter Rassist und Chef des Trios, verpasst dem Neuling gleich einen Übernamen: Pento, so wie das Gel, das sich Stéphane in die Haare schmiert. Dritter im Bund ist Gwada (Djibril Zonga), der Mann mit afrikanischem Migrationshintergrund, der bei der Mutter wohnt.
Stéphane merkt bald, wie der Hase läuft. Die Polizisten sorgen für Ruhe und Ordnung, so gut es eben geht. Sie schauen, dass eine gewisse Balance der Kräfte zwischen den verschiedenen Gruppen herrscht. Gleichzeitig scheinen sie aber für gewisse Gefälligkeiten empfänglich.
Chris fragt einmal Pento: «Weisst du, warum man die Schule ‹Victor Hugo› genannt hat?» Pento: «Weil er ‹Les Misérables› hier geschrieben hat.» – «Hast du den Roman gelesen?» – «Nein, ich weiss es aus dem Internet.» Pento irrt, Victor Hugo hat nicht den Roman in der Pariser Vorstadt geschrieben, sondern Montfermeil in einem Teil von «Les Misérables» zum Schauplatz gemacht.
Die Kids sind die neuen Elenden
Im aktuellen Frankreich ist Montfermeil ein sozialer Brennpunkt mit einer multikulturellen Einwohnerschaft. Im Prolog des Films gehören noch alle dazu, sie sind alle gleich und mit Begeisterung Franzosen. Die Bilder zeigen Junge, die per S-Bahn aus den Vorstädten nach Paris fahren, um hier bei Public Viewings zuzuschauen, wie bei der Fussball-Weltmeisterschaft Frankreich den Titel gewinnt. Anschliessend wird auf den Strassen gefeiert. Es ist das Jahr 2018. Unter den Feiernden ist auch der kleine Issa. Er wird, wieder daheim in der Banlieue, eine wichtige Rolle spielen.
Die Kids, von den Polizisten wahlweise auch «Gnome» oder «Kobolde» genannt, sind die neuen Elenden, die zukunftslosen Abgehängten, das ausgegrenzte Prekariat. Es ist eine Generation voller Wut. Die Wut wird ein Ventil finden am Ende des Films, der in Cannes den Preis der Jury erhielt. Ein unverzeihliches Fehlverhalten von Gwada führt dazu, dass die Lage eskaliert und die Jugendlichen die Polizisten in einen Hinterhalt locken. Der Ausgang des dramatischen Gewaltausbruchs bleibt offen.
Les Misérables
Regie: Ladj Ly
Ab Do, 9.1., im Kino