Bizarr seien seine Filme, heisst es, und das ist vermutlich eine glatte Untertreibung. Wer sich auf Yorgos Lanthimos’ Bildwelten einlässt, darf sich auf Ungewohntes und Übernatürliches gefasst machen. Umso mehr, weil in den Filmen des 50-jährigen Griechen die Realität nur knapp verschoben daherkommt, sodass die Wirkung umso länger anhält. Damit schafft es der Regisseur, sowohl ein Arthouse- als auch ein Mainstream-Publikum zu begeistern beziehungsweise dieses mit wundersamen Experimenten auf vergnüglichste Weise zu verstören.
Versatzstücke aus der griechischen Mythologie
Der in Athen geborene Lanthimos machte sich nach seiner Ausbildung an der örtlichen Filmschule zunächst mit Musikvideos, Werbefilmen, Theaterund Kurzfilmprojekten einen Namen. Dann schloss er sich jener «Greek Weird Wave»- Bewegung an, welche die streng patriarchale griechische Gesellschaft mit chaotischen Mitteln hinterfragte. Es war ein Aufbegehren der surrealen Art und zugleich eine ideale Startrampe für Lanthimos’ heutige Fantasiewelten.
Wenn man seine Filme analysiert, stösst man als Erstes auf allerlei Verwünschungen, Verheissungen und Flüche, auf klassisch-griechische Tragödienelemente also, die der Regisseur in verschiedenen Genres neu durchdekliniert. Zum Beispiel in «The Lobster» (2015), seinem ersten englischsprachigen Film.
Ausgestossene prägen seine Filme
In dieser Science-Fiction wird die Menschheit auf Partnersuchende in einem abgelegenen Hotel reduziert, eine Art «Hunger Games»-Kosmos für Singles.
So einer ist der verstockte David (Colin Farrell), der wie alle Gäste innert 45 Tagen eine Partnerin finden muss – ansonsten wird er in ein Tier seiner Wahl (in diesem Fall ein Hummer) verwandelt. Nur wer ähnliche Wesenszüge trage, passe zueinander, heisst es. Doch dann rechnet sich der introvertierte David fatalerweise Chancen bei einer gefühlskalten Frau aus, die umgehend seine Emotionen «testet», indem sie seinen Bruder (inzwischen zum Hund verwandelt) erschiesst.
Es sind solche Eruptionen und Abgründe, die Yorgos Lanthimos’ Werke prägen. Bevölkert werden sie von Ausgestossenen und Abgeschriebenen, die angesichts der rigiden Machtgefüge auch mal in eine passiv-aggressive Schockstarre verfallen. Die Herausforderungen sind einfach zu gross. Manchmal müssen die Figuren auch einen biblischen Spiessrutenlauf absolvieren, so etwa im Thriller «The Killing of a Sacred Deer» (2017).
Da hat ein Chirurg (wiederum Colin Farrell) unter Alkoholeinfluss den Tod eines Manns verschuldet, worauf dessen Sohn (Barry Keoghan) zuerst Gegenliebe und dann ein Gegenopfer einfordert. Der Chirurg müsse – um Schlimmeres zu verhindern – ein Mitglied seiner eigenen Familie töten. Mehr griechische Mythologie kann man kaum in einen Film packen. Und Lanthimos verpflanzt das alles so souverän in die Gegenwart, bis man nicht mehr weiss, was real ist und was schicksalhafte Fantasie. Da gleichen sich Wirklichkeit und Metaebene bis zur Ununterscheidbarkeit an.
Enge Zusammenarbeit mit internationalen Stars
Um Leben und Tod gehts auch in der bitterbösen KostümfilmHommage «The Favourite» (2018). Da hält sich die im 18. Jahrhundert dahinsiechende britische Königin Anne (Olivia Colman) zum Gedenken an ihre 20 verstorbenen Kinder einen riesigen Kaninchenstall, während sich zwei Erbschleicherinnen (Rachel Weisz, Emma Stone) bis aufs Blut um ihre Gunst prügeln.
Auch das ist, wie jeder von Lanthimos’ Filmen, ein faszinierendes Versuchslabor – mit strikten Regeln, jähen Gewaltausbrüchen, trockenstem Humor und eigentümlich kindartigen Figuren, denen die Kamera atemlos hinterherjagt, sie bewusst «köpft» oder auch ganz aus dem Bildausschnitt kippt. Dann wiederum weiten sich Szenen mittels Fischaugenobjektiv zu einem verzogenen Panorama, als ob gewisse Dinge für immer in der Schwebe bleiben sollten.
Solche Uneindeutigkeiten, gepaart mit einer ebenso präzisen wie verspielten Bildsprache, sind im heutigen Kino einzigartig. Das wird nicht nur vom Publikum, sondern auch von zahlreichen internationalen Topstars geschätzt. Olivia Colman, Colin Farrell, Emma Stone oder Rachel Weisz – sie alle waren schon mehrfach in Lanthimos’ Filmen zu sehen. Man könnte auch sagen: Wer einmal auf den griechischen Geschmack gekommen ist, mag keine Dutzendware mehr.
Rasende Experimentierlust
Bella Baxter (Emma Stone) ist Anmut und Anmassung in einem. Erschaffen hat sie der fratzenhaft entstellte Wissenschafter Godwin (Willem Dafoe), kurz «God», aus den Gebeinen einer Selbstmörderin und dem Hirn ihres ungeborenen Kindes. Das ist Frankenstein hoch zwei, aber Yorgos Lanthimos hat diese Schauerlichkeiten viktorianischen Zuschnitts auch noch mit Fellini- und Buñuel-Bildern angereichert. Als Kind im Erwachsenenkörper kämpft Bella zunächst mit artikulatorischen und feinmotorischen Problemen. Doch kaum hat sie ihre Sexualität entdeckt, lässt sie den ihr zugedachten Ehemann stehen, um stattdessen mit einem windigen Playboy-Anwalt (Mark Ruffalo) durch halb Europa zu fahren und schliesslich allein ein Pariser Bordell zu erkunden. Unerschrocken ist in «Poor Things» (für sieben Golden Globes nominiert) nicht nur die Emanzipationsgeschichte von Bella und die offenherzige Parforceleistung von Emma Stone. Den Film prägt eine geradezu rasende Experimentierlust, und das anfangs noch wacklige Schwarz-weiss wird zu einem üppigen Farbrausch der weiblichen Selbstbehauptung. Der Filmtitel ist also nicht in erster Linie auf Bella gemünzt, sondern vor allem auf die Männer, die mit der lebenstollen Brillanz der weiblichen Hauptfigur nicht ansatzweise mithalten können.
Poor Things
Regie: Yorgos Lanthimos
Irland/UK/USA 2023, 141 Minuten
Ab Do, 18.1., im Kino
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