Mit «Finsteres Glück» hat Lukas Hartmann 2010 ein bewegendes Familiendrama und einen packenden Psychothriller geschaffen: Der achtjährige Yves ist nach einem Autounfall der einzige Überlebende einer fünfköpfigen Familie. Die Psychologin Eliane, alleinerziehende Mutter zweier Teenager-Töchter, nimmt sich seiner an. Schon bald verliert Eliane die professionelle Distanz, zwischen den beiden entsteht ein starkes Band. Bei der Psychologin und ihren Töchtern kommen eigene unverarbeitete Erinnerungen hoch. Für kurze Zeit darf der Junge bei den drei Frauen wohnen. Als er zu seiner Tante ziehen muss, geraten die Ereignisse ausser Kontrolle ...
kulturtipp: Herr Haupt, der Autor Lukas Hartmann ist mit seinem Roman auf Sie zugekommen. Was hat Sie am Buch in den Bann gezogen?
Stefan Haupt: Ich dachte immer, dass ich nie einen Roman verfilmen will. Dieses Schielen auf Erfolg mit einem bekannten Buch, dazu hatte ich keine Lust … Aber «Finsteres Glück» hat mich beim Lesen sehr berührt: Dieser Junge, der nach dem Unfall seiner Familie mutterseelenallein zurückbleibt. Oder die Annäherung der Psychologin Eliane an den traumatisierten Yves, und wie beide auf ihre eigene Art einsam sind. Überhaupt die starke Figur der Eliane, eine alleinerziehende Frau, die autonom ist und sagt, dass sie die Männer nicht mehr nötig hat. Dazu kommen ihre Töchter, die in die Welt hinausdrängen … Dieses Beziehungsgeflecht fand ich spannend.
Wie gelang es Ihnen, nahe an Lukas Hartmanns Erzählweise zu bleiben?
Ich habe viele Anregungen vom Buch übernommen. Aber der Film sollte eine eigene Färbung und Gewichtung bekommen. Ich erreichte einen Punkt, als ich den Text weglegen musste, um die Geschichte für mich selber nachvollziehen und kreieren zu können. Den Roman habe ich in die Gegenwart und die Ich-Form von Eliane in die dritte Person umgeschrieben. Das war eine gute Möglichkeit, die Sichtweise zu ändern.
Die Geschichte an sich klingt rührselig, Hartmann schuf daraus aber ein feinfühliges Porträt. Wie gelang es Ihnen, am Kitsch vorbeizuschiffen?
Das war eine grosse Herausforderung. Ich wollte nicht auf glänzende Augen setzen. Wir haben versucht, inhaltlich genau und eher zurückhaltend zu sein und uns dennoch nicht vor grossen Emotionen zu scheuen. Eines der schönsten Feedbacks kam von einer Oberärztin, die für die psychologische Betreuung von Kindern zuständig ist. Wir hatten vor Drehbeginn mit ihr gesprochen, um die Geschichte besser erfassen zu können. Sie fand den Film authentisch: Etwa die Szene, als sich Tante und Grossmutter mit schrillen Stimmen am Krankenbett um den Buben streiten – das habe sie oft genauso erlebt.
Haben Sie sich mit dem Autor ausgetauscht?
Lukas Hartmann hat mir zu den Drehbuchfassungen immer Feedbacks gegeben, und zweimal kam er aufs Set. Es war eine schöne Form von Zusammenarbeit. Ihm war klar, dass er nicht in die Regie dreinreden kann, und ich habe seine Anregungen gerne entgegengenommen.
Was muss ein Stoff haben, damit er Sie zur Verfilmung reizt?
Ich glaube, es hat etwas mit der Ganzheit des Lebens zu tun – die hellen und dunklen Seiten, all die Ambivalenzen. Ich muss für mich etwas abrufen können, das mit den Vielschichtigkeiten des eigenen Alltags zu tun hat. Ich versuche, in meinen Filmen nicht zu simplifizieren, sondern dem Leben mit seinen unterschiedlichen Ebenen gerecht zu werden.
Psychische Ausnahmesituationen scheinen Sie zu interessieren, wenn man Ihr Werk wie etwa «Utopia Blues», «How About Love» oder nun «Finsteres Glück» anschaut.
Wenn man sich intensiv mit einem Stoff beschäftigt, merkt man, dass solche Ausnahmesituationen in unserem Alltag viel präsenter sind, als wir denken. In der Schweiz haben wir oft ein Grundgefühl, dass es allen gut geht und alles solide hält. Aber das ist nur eine Art Firnis obendrauf. Wenn man nachfragt, hat fast jeder eine Ausnahmesituation im Köcher. Jeder trägt ein verletztes Kind in sich. Bei «Finsteres Glück» war ich erstaunt, wie viele der Beteiligten aus Cast und Crew Geschichten von schwierigen Beziehungen oder Tod zu erzählen hatten.
Sie sind mit der Hauptdarstellerin Eleni Haupt verheiratet, haben vier gemeinsame Kinder. Wie funktionierte die Zusammenarbeit als Ehepaar?
Die Herausforderungen können Sie sich vorstellen … (lacht) Es gab Gründe, warum wir das bisher nie gemacht hatten. Aber bei dieser Geschichte war klar: Das ist eine Rolle, die auf Eleni zugeschnitten ist, bei der sie viel Eigenes abrufen kann. Es ist natürlich schwieriger, der eigenen Frau dauernd Anweisungen zu geben – und umgekehrt für sie, diese entgegenzunehmen. Bei einem fremden Regisseur kann man sich als Schauspielerin unbefangener nerven … Aber wir sind glücklich, wie es herausgekommen ist.
Warum war Noé Ricklin der Richtige für die Rolle von Yves? Wie haben Sie den 8-Jährigen an seine Rolle herangeführt?
Noé ist eine tolle Erscheinung vor der Kamera. Er und Eleni hatten sofort einen guten Draht zueinander. Ich habe als Theaterpädagoge viel mit Kindern gearbeitet. Und wir hatten während der ganzen Drehzeit einen Kindercoach, der nur für Noé zuständig war. Die Regelung war, dass wir immer von Yves reden, als ob es ein enger Freund wäre, dem das Unglück widerfahren ist. Noé hat am Set Yves-Kleider angezogen und ist am Schluss wieder in seine eigenen geschlüpft – das war hilfreich für die Abgrenzung.
Gerade bei der Rolle des traumatisierten Yves arbeiten Sie im Film oft mit Bildsprache, Worte rücken in den Hintergrund.
Ich hatte mir die Aufgabe gestellt, Yves’ Ohnmacht und Hilflosigkeit im Film darzustellen und auszuhalten. Aber auch bei der Psychologin, die sich besser artikulieren kann, war die Bildsprache ein wichtiges Element.
Die Thematik erinnert an die Arbeit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb, die zurzeit stark in der Kritik steht. Was trägt Ihr Film zu dieser Diskussion bei?
Ich finde diese populistische Schlechtmacherei der Kesb unsäglich. Ich habe grössten Respekt vor deren Arbeit. Wenn der Film zeigen kann, wie unglaublich schwierig solche Entscheidungen sein können, dann freut mich das. Wir müssen aufhören, so zu tun, als wüssten wir immer, was richtig und falsch ist. Die Kesb sucht nach der bestmöglichen Lösung und ist natürlich nicht gefeit vor Fehlern, die es nach Möglichkeit zu verhindern gilt. Aber auch bei diesem Film sieht man ja, dass es keine simple Lösung geben kann, die alle zufriedenstellt.
Befassen Sie sich auch in Ihrem nächsten Projekt mit gesellschaftspolitischen Themen?
Ja, es ist ein grosser Spielfilm über den Reformator Zwingli in Vorbereitung, der ja auf verschiedensten Ebenen eine enorme Veränderung bewirken konnte. Zudem arbeite ich an einem Dok-Film: einem «Zürcher Tagebuch», dem Versuch einer Verortung, was an gesellschaftlichen und politischen Veränderungen momentan am Laufen ist.
Interview: Babina Cathomen