Im zerbombten Stettin kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wird eine Mutter in ihrer Wohnung durch russische Soldaten vergewaltigt. Wenig später setzt sie ihren Sohn an einem Bahnhof aus. Einen schockierenderen Beginn als in Julia Francks Roman «Die Mittagsfrau» kann man sich kaum vorstellen, doch in der Filmadaption von Barbara Albert sucht man diesen Anfang vergebens.
Nun ist es natürlich erlaubt, einen Bestseller nach eigenem Gusto umzugestalten. Nur passt hier in der ersten Filmhälfte wenig zusammen: der ungelenke Versuch einer Mutter-Sohn-Versöhnung, ein hingeschlenztes Gleichnis über die Sagengestalt der Mittagsfrau, ein ausufernder Rückblick.
So finden wir zur Halbjüdin Helene (Mala Emde), deren Mutter den Verstand verloren hat, weil ihr Mann und die Söhne im Ersten Weltkrieg fielen. Zusammen mit ihrer älteren Schwester Martha (Liliane Amuat) geht sie nun erst mal auf sexuelle Selbstentdeckung und dann nach Berlin, wo in den Roaring Twenties Champagner, freizügige Liebe und Charleston-Tänze dominieren.
Mala Emde beherrscht die ganze Palette
Der Film will jetzt plötzlich von allem erzählen: von Helenes erster Liebe und ihrem Versuch, Ärztin zu werden (es reicht aber nur zur Krankenschwester). Und wie sie einen Nazi (Max von der Groeben) heiratet, der ihr einen Arierausweis beschafft, sie zur Hausfrau degradiert und ihr ein ungewolltes Kind macht.
Da werden viel Leid, Ballast und wichtige Themen aufgefahren, von der sexuellen Selbstbestimmung bis zu ungewollter Mutterschaft. Doch je beklemmender die Welt wird für Helene, die jetzt Alice heissen muss, desto grandioser spielt Hauptdarstellerin Mala Emde. Die 27-jährige Deutsche beherrscht die ganze Palette von der quirligen 16- bis zur desillusionierten 46-Jährigen. Ihr allein ist es zu verdanken, dass «Die Mittagsfrau» nicht zur austauschbaren Historientapete verkommt.
Die Mittagsfrau
Regie: Barbara Albert D/CH/LUX 2023, 136 Minuten Ab Do, 16.11., im Kino