Stefan Jäger ist mit dem E-Bike zum Gespräch in einer Luzerner Gartenbeiz gekommen, von Meggen her, dem Vorort, in dem er aufgewachsen ist. Lange Jahre war er weg, in Deutschland fürs Studium und zum Arbeiten, in Italien, in Zürich, wo seine Produktionsfirma tellfilm ihren Sitz hat. Vor vier Jahren ist er zurückgekehrt und mit seiner Familie in das Elternhaus gezogen. So pendelt er nach Zürich, wo er an der Hochschule der Künste als Leiter der Drehbuchabteilung wirkt.
Das Projekt nahm sechs Jahre in Anspruch
Der Stoff seines neuen Films treibt den 51-Jährigen genau besehen seit Jahrzehnten um. Entdeckt hatte Stefan Jäger den Monte Verità Ende der 1980er-Jahre, als er im Rahmen des Filmfestivals Locarno als Jungfilmer bei «Cinema & Gioventù» teilnahm. Bei dieser Gelegenheit besuchte er den geschichtsträchtigen Ort im nahen Ascona. Anfang der 2000er-Jahre folgten weitere Beschäftigungen mit dem Tessiner «Wahrheitsberg». Bis es schliesslich ganz konkret wurde mit dem Spielfilmprojekt. Sechs Jahre hat die gesamte Produktionszeit für «Monte Verità» gedauert – von der Projektentwicklung und Finanzierung über die eigentlichen Dreharbeiten an 34 Tagen und die Postproduktion bis zum fertigen Film. Am 7. August feierte «Monte Verità» seine Premiere am Filmfestival von Locarno.
Die Figuren im Film sind alle historisch verbürgt, nur der Charakter von Hanna Leitner (Maresi Riegner) ist erfunden. Sie ist Angehörige der Wiener Oberschicht und will sich aus dem beengenden Korsett befreien, verlässt Mann und Töchter, um im Sanatorium auf dem Monte Verità im Tessin Heilung und Befreiung zu finden.
Weg von den Zwängen der Gesellschaft!
Der drogenabhängige Arzt Otto Gross (Max Hubacher) ist eine Art Guru mit ambivalenten Zügen und umstrittenen Therapiemethoden. Auf dem Berg lebt auch Ida Hofmann (Julia Jentsch), Mitgründerin des Sanatoriums und Partnerin von Gross. Ebenfalls von Anfang mit dabei ist die «wilde», in der Natur lebende Lotte Hattemer (Hannah Herzsprung). Ihr wird Gross auf ihren Wunsch Sterbehilfe leisten. Viel Prominenz fühlt sich von der Gemeinschaft angezogen. So etwa der junge Dichter Hermann Hesse (verblüffend ähnlich: Joel Basman), der sich in einem Auftritt seiner Kleider entledigt und die Ideen zu einem kommenden Buch erläutert. Daraus wird der Roman «Siddharta» entstehen.
Hanna entdeckt die Fotografie für sich und wird Hoffotografin auf dem Monte Verità. Eine Texttafel am Ende des Films erklärt, dass die Autorenschaft vieler Monte-Verità-Fotos unbekannt ist – «Hanna Leitner könnte eine der Fotografinnen gewesen sein».
Stefan Jäger und sein Team haben minutiös recherchiert, um diese Ära stimmig darzustellen. Der knapp zweistündige Film konzentriert sich auf drei Monate im Jahr 1906. «Damit sind wir nicht in Versuchung geraten, den Berg in seiner Gesamtheit darzustellen», sagt der Regisseur. Das hätte man mit einem Dokumentarfilm machen können. Ihm war es wichtig «die Gefahr der ‹Wikipediasierung› zu umschiffen», also Wissen in Spielfilmform abzuhaken. Ein Fokus liegt auf der Figur Hanna, ihrer Emanzipations- und Selbstfindungsgeschichte, wie Jäger sagt: «Sie erlebt etwas extrem Heutiges, denn sie steckt im Dilemma: Familie oder Kunst? Und sie fragt sich: ‹Wer bin ich?›.»
Vieles von damals, das im Film mit historischer Genauigkeit gezeichnet ist, wirkt lange nach, hat mitunter gar Pioniercharakter: Auf dem Monte Verità suchten die Frauen und Männer ein Leben im Einklang mit der Natur, sie probierten eine kollektive Gemeinschaft aus, in der alle gleichberechtigt sind, wo sie die Abkehr von gesellschaftlichen Zwängen praktizierten, und wo der Geist der Utopie wehte. Es war gewissermassen, so Stefan Jäger, «die erste Hippie-Kommune der Welt», inklusive Freikörperkultur und veganer Ernährung.
Es soll nicht beim «trockenen» Historien- und Kostümfilm mit aktueller Gültigkeit bleiben, wenn eine Welt vor über 100 Jahren rekonstruiert wird. «Das Publikum soll nicht die Mottenkugeln riechen, sondern in unserem Fall die Natur. Mir war es wichtig, dass man haptisch das Gefühl hat, man sitzt auf diesem Berg.» Mit Bildern, Tönen, dem Sound der Natur, den Farben macht Jäger dies erfahrbar.
Dreharbeiten voller Herausforderungen
Und wenn es schon um Gleichberechtigung und um eine Frauenfigur geht, war auch der Frauenanteil in der Produktion ein Thema: In den tragenden Sparten sind 77 Prozent Frauen. Drehbuch, Produktion, Casting, Kamera, Kostüm, Maske, Ausstattung, Schnitt – alles in Frauenhand.
Für «Monte Verità» waren etliche Herausforderungen zu bewältigen. Angefangen bei der Dreh-Verschiebung um drei Monate inmitten von Corona-Zeiten, vom erschwerenden Proben mit Maske und mit regelmässigem Testen. Da konnte es schon mal terminlich sehr knapp werden. Oder Naturgewalten drohten die Dreharbeiten zu behindern. Trotzdem sagt der Regisseur: «Für mich war es die aufwendigste und schönste Filmarbeit, trotz Unwägbarkeiten ohne Ende.» Im aktuellen Fall war er so entspannt wie noch nie.
Entspannt kann er weiterhin sein. Denn sein nächster Film ist schon fertig: die Dokumentation «Markus Imhoof – Rebellischer Poet». Den Anlass bildet der 80. Geburtstag des Schweizer Regisseurs («Das Boot ist voll», «More Than Honey», «Eldorado»). Jägers Würdigung zum Leben und Werk seines Regie-Kollegen wird in der «Sternstunde Kunst» von SRF 1 ausgestrahlt, zwei Wochen nach dem Kinostart von «Monte Verità».
Monte Verità – Der Rausch der Freiheit
CH/D/AUT 2021, 116 Minuten
Ab Do, 26.8., im Kino
TV
Markus Imhoof – Rebellischer
Poet; Sternstunde Kunst:
So, 12.9., 12.00 SRF 1
Sa, 18.9., 21.55 3sat