Der Spielfilm beginnt mit historischem Archivmaterial: Im Jahr 1963 ist der sowjetische Kosmonaut Yuri Gagarin, der erste Mensch im All, zu Besuch in Ivry-sur-Seine in der Pariser Banlieue. Er ist gekommen, um als Namensgeber den riesigen Gebäudekomplex namens Cité Gagarine mit 370 Sozialwohnungen und den charakteristischen roten Backsteinfassaden einzuweihen.
Etliche Jahrzehnte später lebt ein anderer Youri in der Cité. Langsam leeren sich die Häuser. Die Menschen ziehen aus, weil der gesamte Komplex abgerissen wird. Am Ende wird der junge Youri der letzte Mensch sein, der hier noch wohnt. Youri ist ein talentierter Bastler und Astronomie-Fan. In seinem Zimmer hängt ein Mobile mit Planetenmodell an der Decke, eine wunderschöne Sternenkarte leuchtet, durch sein Teleskop blickt Youri in die nähere und weitere Umgebung. Zusammen mit Freunden versucht er zu retten, was zu retten ist. Etwa, indem er die Flurbeleuchtungen wieder instand stellt.
Poetische Momente inmitten von Funktionalität
Hilfe erhält Youri von der jungen Diana (Lyna Khoudri), die in der nahen Roma-Siedlung lebt. Diana kann bestens mit dem Schweissbrenner umgehen und auf Baukräne klettern. Ihr Ziel ist es, in die USA auszuwandern. Derweil schafft sich Youri sein eigenes Reich: eine veritable Raumkapsel inklusive Gewächshaus für Gemüse. Hier sollen die Elemente Wasser, Erde und Luft im Einklang sein.
Youri ist ein Eigenbrötler und zugleich eine überaus soziale Person. Er chauffiert ein Umzugsauto oder lässt dank einer Plane die verbliebenen Mieter eine Sonnenfinsternis geniessen. Youri und Diana kommunizieren nachts über weite Distanzen per Morsezeichen-Lichter. Am Schluss ist eine zauberhafte Illumination zu erleben. In solchen Szenen sowie in stillen Aufnahmen zwischendurch gewinnt der Film der funktionalen Hausarchitektur poetische Momente ab. Erst recht poetisch wird es in den imaginierten Bildern, in denen Youri, zum Astronauten geworden, durch das Haus schwebt.
Dreharbeiten vor dem Abriss der Cité
Das Regie-Duo Fanny Liatard und Jérémy Trouilh kannte die Cité Gagarine gut: Bereits 2014 hatte es als Auftragsarbeit einige Mieter filmisch porträtiert. Daraus wurde ein viertelstündiger Dokumentarfilm. «Gagarine» ist nun das Spielfilmdebüt der beiden. Bevor die Cité ab August 2019 definitiv dem Erdboden gleichgemacht wurde, haben sie noch am Originalschauplatz in den leeren Häusern drehen können. Der junge Hauptdarsteller Alséni Bathily, ein Laie bei seinem ersten Filmauftritt, hat selber nicht in der Cité gelebt. Zufälligerweise war aber sein Vater ein früherer Bewohner von Gagarine.
So authentisch und realistisch die Geschichte und der Ort sind, so fantastisch, ja magisch, zeigt sich die Story von Youri, der eine – vergebliche? – Rettungsaktion für seine Heimat plant. In der Realität weiss man, welches Schicksal die Siedlung erlitt. Die filmische Freiheit dieser Fiktion hat vielleicht eine andere Lösung parat …
Gagarine
Regie: Fanny Liatard, Jérémy Trouilh
F 2020, 97 Minuten
Ab Do, 9.12., im Kino