«So may we start?» Können wir anfangen? Der gleichnamige Song wird in einem Tonstudio gesungen, am Mischpult steht Regisseur Leos Carax. Im Aufnahmeraum zugange sind die Sparks, von denen die Idee zu diesem Film stammt und natürlich die Musik. Alle gehen, immer noch singend, nach draussen, auf die Strasse. Adam Driver, der den Komiker Henry McHenry spielt, setzt sich einen Helm auf und braust auf seinem Motorrad davon. Marion Cotillard als Opernsängerin Ann besteigt eine Limousine und lässt sich in die entgegengesetzte Richtung chauffieren.
So beginnt der neue Film des französischen Kultregisseurs Leos Carax («Les Amants du Pont-Neuf»). Er feiert in der Form eines Musicals die Magie der Film- und Musikkunst und erzählt von einem traurigen Clown und einer Opernsängerin sowie deren intensiver, tödlicher Liebe. Kontrastwelten begegnen sich – das Ernste und Pathetische der Oper auf der einen, das Komische, das ins Lächerliche kippen kann, auf der anderen Seite. Es ist alles auch «ein düsteres Märchen», wie Leos Carax sein jüngstes Werk «Annette» beschrieben hat.
In Cannes fing alles an
Annette ist die Frucht von Henrys und Anns Liebe. Allerdings handelt es sich beim Kind um eine Puppe. Ein Fall von Künstlichkeit, für den Film aber nicht digital in die Bilder montiert, sondern als analoges Objekt animiert. Die grosse Liebe zwischen Henry und Ann wird auf die Probe gestellt. Während sie auf der Opernbühne schön stirbt, «tötet» er sein Publikum. Henry demontiert sich selbst in seiner Show «Der Affe Gottes» bei einem Auftritt in Las Vegas. Sie feiert Erfolge, sein Stern beginnt mehr und mehr zu sinken. Sie strahlt auf der Bühne, auf ihren Plakaten steht «ausverkauft», während es auf seinen heisst: «abgesagt».
Annette, die Titelfigur, wird zum Baby-Star inklusive Welttournee, gemanagt von ihrem Vater Henry. Gegen ihn werden von mehreren Frauen Missbrauchsvorwürfe laut. Er landet schliesslich im Gefängnis, wo ihn nach Jahren ein Kind besucht. Es ist Annette.
Der Weg zu diesem im guten Sinne sonderbaren und faszinierenden Film war lang. Seinen Anfang nahm er im Jahr 2013 in Cannes. Die Brüder Ron und Russell Mael aus Los Angeles, die seit 1972 hinter der Band Sparks stecken, begegneten dort dem Regisseur Leos Carax – er ein Fan ihrer Musik, sie Fans seiner Filme. Die Mael-Brüder stellten Carax die Idee für einen Musicalfilm vor. Sieben Jahre später war es so weit. Bei den Aufnahmen sangen die Protagonisten die Songs live, lediglich bei den Opernszenen wurde die Stimme von Marion Cotillard («La vie en rose») von einer professionellen Stimme überblendet.
Drohende Kitsch-Klippe wird stets umschifft
Trotz aller Künstlichkeit, trotz Pathos und Romantik bleibt «Annette» ein Film, der berührt und die drohende Kitsch-Klippe stets umschifft, nicht zuletzt dank feinen ironischen Zwischentönen. Ein Film von seltener Bilderpracht und voller toller Musik.
Annette
Regie: Leos Carax
F/D/BE/USA 2021, 141 Minuten
Ab Do, 30.12., im Kino