FILM Der alte Mann und das Mädchen
Der neue Film «Like Someone In Love» des iranischen Altmeisters Abbas Kiarostami spielt mit Rollen und Identitäten. Der Schauplatz ist Tokio.
Inhalt
Kulturtipp 05/2013
Urs Hangartner
Die Kamera verharrt lange Minuten in einer einzigen Einstellung. Der Blick geht von einem Tisch mit einem Gegenüber in einen Bar-Raum. Man sieht ältere Männer in Gesellschaft herausgeputzter junger Frauen. Man hört Stimmen. Erst langsam erschliesst sich einem die Szenerie: Die junge Akiko (Rin Takanashi) versucht, ihrem Gegenüber einen Auftrag auszureden. Sie müsse für die morgige Prüfung lernen, und die Grossmutter komme zu Besuch. Schliesslich gi...
Die Kamera verharrt lange Minuten in einer einzigen Einstellung. Der Blick geht von einem Tisch mit einem Gegenüber in einen Bar-Raum. Man sieht ältere Männer in Gesellschaft herausgeputzter junger Frauen. Man hört Stimmen. Erst langsam erschliesst sich einem die Szenerie: Die junge Akiko (Rin Takanashi) versucht, ihrem Gegenüber einen Auftrag auszureden. Sie müsse für die morgige Prüfung lernen, und die Grossmutter komme zu Besuch. Schliesslich gibt sie nach. Per Taxi geht es in einer einstündigen Fahrt zu einem Kunden in die Vorstadt. Unterwegs hört Akiko ihre Combox ab. Die Grossmutter ist am Bahnhof angekommen und will ihre Enkelin sehen. Aber sie hat keine Zeit.
Doppelleben
Akiko, seit zwei Jahren in der grossen Stadt, studiert Soziologie an einer Tokioter Universität. Um sich ihr Studium zu finanzieren, lebt sie ein Doppelleben: Nebenbei arbeitet sie bei einem Escort-Service, ohne dass ihr Freund Noriaki etwas davon weiss. Der aktuelle Kunde ist der alte Uniprofessor Takashi (Tadashi Okuno). Er hat daheim den Tisch für zwei gedeckt und Wein bereitgestellt. Eigentlich will der Witwer nur Suppe essen und reden.
Ob es «zur Sache» kommt zwischen den beiden in dieser Nacht, bleibt offen. Am nächsten Morgen chauffiert der alte Takashi die Studentin Akiko zur Uni. Vom Auto aus bekommt er mit, wie ihr Freund Noriaki ihr eine Szene macht. Sie geht zur Prüfung, während Noriaki sich zu Takashi ins Auto setzt, der sich als Akikos Grossvater ausgibt. Das «Rollenspiel» geht weiter: Takashi bleibt der angebliche Grossvater. Noriaki, der nichts von den unterschiedlichen Identitäten seiner Freundin weiss, scheint indes allmählich etwas zu ahnen. Am Schluss bricht Gewalt das Gemächliche des Filmgeschehens jäh auf.
Universeller Film
Ein paar wenige Schauplätze, völlig unspektakuläre Kameraarbeit, ein kleines, überschaubares Ensemble – das genügt dem 73-jährigen Regisseur Abbas Kiarostami für seinen Film. Es ist kein japanischer Film, obwohl er in Tokio gedreht wurde. Kiarostami versteht «Like Someone In Love» auch nicht als exil-iranisches Werk, sondern als universellen Film.
Der Regisseur und Drehbuchautor, einst in den 1970er-Jahren ein Exponent der iranischen Neuen Welle, arbeitet nicht mehr in seinem Heimatland. Aus Vorsicht, dem Ahmadinedschad-Regime nicht in die Quere zu kommen, bewahrt sich der grosse alte Mann des iranischen Kinos seine künstlerische Freiheit mit Produktionen im Ausland, die dann wie hier einen englischen Titel tragen. «Like Someone In Love» heisst auch der Song, den man im Abspann des Films hört. Sängerin Ella Fitzgerald interpretiert den US-amerikanischen Jazzstandard.