Ganz am Anfang und wieder am Ende des Films sieht man die Szenen: ein alter, kranker und einsamer Mann allein im Becken eines Thermalbades. Der Ort: Abano Terme in Italien. Der Mann: Binjamin Wilkomirski, der sich heute lieber mit «Bruno» anreden lässt. Der Name ist falsch. Erfunden. So wie vieles in seiner eigenen Lebensbeschreibung. Im Kommentartext heisst es: «Dies ist die Geschichte eines Menschen mit einer einzigartigen Biografie.»
Wilkomirskis autobiografisches Buch, ausgegeben als authentisch, ist 1995 unter dem Titel «Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948» erschienen: Ein jüdisches Kind, 1939 in Lettland geboren, hat den Holocaust überlebt und ist nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz gelandet.
Auch die echte ist eine traurige Biografie
Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt, von der Kritik weltweit gefeiert und mit etlichen Preisen ausgezeichnet. Doch: Alles nicht wahr. 1998 kam es zum Skandal. Es ist das Verdienst des Journalisten Daniel Ganzfried und des Historikers Stefan Mächler, inspiriert von Ungereimtheiten, die Wahrheit ans Licht gebracht zu haben. Die Verlage nahmen das Buch aus dem Programm, die Preise wurden dem Autor aberkannt.
Es ist die Geschichte einer einzigen grossen Täuschung – und eine ungeheuerliche Wahrheit. Binjamin Bruno Wilkomirski ist ein Lügner. Er hat sich eine Identität, eine Biografie zusammenfantasiert. Und glaubt bis heute an die Lüge. Regisseur Rolando Colla zeichnet in seinem Film die Spuren von Wilkomirskis richtiger Biografie sorgfältig nach. Er ist dem Porträtierten, der sich lange vollständig zurückgezogen hatte, nah gekommen. Wilkomirski lässt sich bei sich zu Hause im thurgauischen Amlikon filmen, man sieht, wie der studierte Musiker Klarinetten baut. Auf dem Fensterbrett brennen die Kerzen des jüdischen Chanukkaleuchters.
Auch die echte ist eine traurige Biografie: Heim-, Pflege- und Adoptivkind, ungeliebt, ungewollt, allein gelassen. Ein solcher Hintergrund mit Traumatisierungen könnte das Lügengebäude erklären. Dazu kommt die unrühmliche Rolle von Psychotherapeuten, die, wie es der Film plausibel macht, mit ihren Ratschlägen nicht wenig zu Wilkomirskis Verfassen einer fiktiven Autobiografie beigetragen haben.
Archivmaterial, Interviews und animierte Bilder
Der Film ist fundiert gemacht, mit teilweise neuem exklusivem Material bestens recherchiert und gestaltet, klug in Kapitel gegliedert samt Prolog und Epilog. Zum historischen Archivmaterial kommen heutige Interviews aus der Schweiz, aus Polen oder Israel sowie nicht zuletzt Zeichnungen: Für Wilkomirskis angebliche Kindheitserinnerungen hat der Zürcher Illustrator Thomas Ott mit seiner typischen Schabkartontechnik ausdrucksstarke schwarz-weisse Bilder gezeichnet, die animiert wurden. So fügt sich alles zu einer spannenden Dokumentation über eine tragische Figur, die vom angeblichen Opfer zum Täter wurde.
W. – Was von der Lüge bleibt
Regie: Rolando Colla – 111 Min.
Ab Do, 12.11., im Kino