«Niemand will mich, weil ich ein Schadenfall bin.» Jacqueline von Kaenel nimmt die Tatsachen nüchtern zur Kenntnis: Sie findet keine Arbeit, kann keine Versicherung mehr abschliessen. Die Protagonistin in Kaspar Kasics’ Dokumentarfilm gibt gefasst, offen und reflektiert vor der Kamera Auskunft. Sie ist sich bewusst, dass sie nicht mehr lange leben wird. «Jetzt gehöre ich nicht mehr dazu.» Drei Wochen nach den letzten Filmaufnahmen stirbt sie.
Die Zeit, die im Film bleibt, nutzt sie zur grossen Erinnerungsarbeit, zur Bilanz und zum Aufarbeiten eines Lebens, das in den frühen Jahren schrecklich war. Dabei war sie als Kind einer Auslandschweizer-Familie in Franco-Spanien privilegiert und wohlbehütet aufgewachsen: der Vater Manager bei Sulzer, die Mutter aus ostpreussischem Adel. Es gab Musikunterricht, Polo, Tennis.
Krankheit als Teil der eigenen Biografie
Doch da sind die Schattenseiten. Jacqueline von Kaenel erkennt angesichts des nahenden Todes, wie ihre Krankheit Teil ihrer Biografie ist. Hinter der Fassade der bürgerlichen Familie litten die Kinder unter einer brutalen Wirklichkeit. Die Mutter bestimmte ihre rigide Welt: Die Erziehung beruhte auf einem System der Gewalt. Sie prügelte ihr Kind, bis der Rücken voller Striemen war.
Jacqueline von Kaenel hat ihren Ausweg gefunden, sie schaffte es, dem «Wahnsinn der Eltern etwas entgegenzusetzen»: Sie wurde Psychologin, um anderen Müttern zu helfen, und sie hatte selber Kinder. Nun werde sie von der traurigen Vergangenheit «doch eingeholt, und zwar auf der körperlichen Ebene» – von einem tödlichen Krebs.
Über das persönliche traurige Schicksal der Protagonistin hinaus zeugt der Film von Beispielhaft-Universellem: Wie Leid wirken kann in einem System der Unterdrückung. Und wie man im besten Fall aus ihm hinausfindet.
Das Erste und das Letzte
Regie: Kaspar Kasics
Ab Do, 15.2., im Kino