Alles mutet an wie ein ungemein authentisch und realistisch gemachter, ungekünstelter Spielfilm, dessen Schauspieler ihren Figuren aus der richtigen Welt ganz nah sind. Doch es ist kein Spielfilm. Die Protagonisten «spielen» sich selbst – es ist ein Dokumentarfilm.
Es fängt im Bestattungsinstitut in Lausanne an. Eine Leiche wird angekleidet, der Sarg hergerichtet. Es war der letzte Wille des Verstorbenen Francesco Spadea, in seinem Heimatdorf beerdigt zu werden. Einst, in den 1970er-Jahren, war er als Gastarbeiter in die Schweiz emigriert. Es sind 1600 Kilometer von Lausanne ins kleine kalabresische Dorf, eine Autofahrt von zwei Tagen.
Philosophieren während einer langen Fahrt
Bestatter Jovan Nikolic war daheim in Serbien ein vielbeschäftigter «Zigeuner»-Musiker. In Belgrad habe er mit Musik «so viel verdient wie in der Schweiz ein Chirurg». Bei einem Gastspiel ist er wegen der Liebe in der Schweiz hängengeblieben. Unterwegs intoniert er wehmütige Volkslieder aus der Heimat – «Bring mich endlich zum Lächeln, oh verdammtes Schicksal». Seiner kleinen Tochter singt er von Italien aus ein Schlaflied ins Handy.
José Russo Baiāo ist der Intellektuelle der beiden. Ursprünglich aus Portugal, ist er weltgewandt, er spricht auch Italienisch, was ihm auf der Fahrt gute Dienste leistet. José glaubt nicht an ein Leben nach dem Tod, an die Auferstehung, im Gegensatz zu Jovan. Die beiden Bestatter sind unterwegs stets stilvoll gekleidet in Anzug und Krawatte. Sie philosophieren während der langen Fahrt über das Leben, die Liebe, den Glauben, die Vergänglichkeit. «Was bedeutet dir Liebe?» – «Du findest die zweite Hälfte deiner Seele in einer Frau.»
Schliesslich kommen sie am Bestimmungsort an. Der Sarg mit Francesco Spadea wird den einheimischen Bestattern übergeben. Jovan und José nehmen noch an der Beerdigung teil. Vor der Heimfahrt füllen sich die beiden am Strand je eine Pet-Flasche mit Meerwasser. Mission erfüllt.
«Calabria» kommt mit ein paar wenigen fixen Kamera-Einstellungen aus: von vorne auf die beiden Gesichter, auf ein einzelnes Gesicht, in Fahrtrichtung, nach hinten über den Sarg zur verglasten Hecktüre hin. Die Kamera bewegt sich lediglich bei den Zwischenhalten, wenn José und Jovan sich die Beine vertreten, tanken oder in einem Autogrill essen gehen. Das Fahren, das Reden, ein paar Begegnungen unterwegs – mehr braucht es nicht.
Hommage an alle Emigranten
Das ist unspektakulär – und gleichzeitig spannend. Regisseur Pierre-François Sauter hat ein dankbares filmisches Sujet und vor allem sehr ergiebige Protagonisten gefunden. So simpel wie überzeugend. Der Westschweizer Sauter versteht seinen Dokumentarfilm als «Hommage», als Ehrbezeugung «an all die Menschen, die ihre Heimat im Süden verlassen haben, um anderswo Arbeit zu finden». Er erweitert diese historische Perspektive, indem er an «alle Menschen, die sich auf der Welt auf der Suche nach einem besseren Leben befinden» denken lässt. Mit José und Jovan hat er zusätzlich versucht, das Klischee des Emigranten zu brechen. Das alles ist ihm bestens gelungen.
Calabria
Regie: Pierre-François Sauter
Ab Do, 29.6., im Kino