Ein Jugendlicher, Yoan, steht am Strassenrand. Ein Autofahrer, Léo, hält an und fragt, ob er in einem Film mitspielen möchte. Der Junge zeigt kein Interesse. Auf der anderen Strassenseite sitzt ein älterer Mann namens Marcel in einem Campingstuhl und hört lauten 1970er-Jahre-Rock von Wishbone Ash und Joe Walsh. Der Mann im Auto fährt weiter. Es ist der Protagonist dieses Films.
Léo (Damien Bonnard) geht über ein windiges Plateau im französischen Zentralmassiv. Mit dem Feldstecher beobachtet er von Weitem eine Schäferin, die mit einem Gewehr bewaffnet ist, eine Schafherde und einen Hund. Marie (India Hair) lebt mit ihrem Vater Jean-Louis und den beiden Söhnen auf einem abgelegenen Hof. Léo und Marie schlafen miteinander.
Von der Geburt bis zur Sterbehilfe
Nicht zum letzten Mal lügt Léo seinen Produzenten am Telefon an. Er sei bald fertig, er komme gut voran, er schicke den Text gleich. Léo ist ein Drehbuchautor mit offensichtlicher Schreibblockade. Er lügt nicht zuletzt, um immer wieder Vorschüsse zu erhalten.
Marie und Léo bekommen ein Kind. Der Film zeigt eine reale Geburtsszene. Doch Marie verlässt Léo und den Hof. Mit ihren beiden Söhnen zieht sie in die Stadt. Es mutet wie eine Traumszene an, als Léo alleine mit einem Kahn auf einem Fluss zu einer geheimnisvollen Heilerin rudert. Léo besucht Marie in der Stadt. Sie: «Es geht auch ohne Mutter. Männer hauen ja auch ab, und die Frau schafft es auch ohne Mann.» Diesmal ist es umgekehrt.
Auf dem Hof weist Léo die Annäherungen seines Quasi-Schwiegervaters Jean-Louis zurück. In Brest bemerkt er, dass seine Bankkarte gesperrt ist. Er bettelt bei Passanten und wird in der Unterführung von einer Schar Obdachloser angegriffen und aller seiner Kleider beraubt. Er ist ganz unten. Auf der Rückfahrt macht er halt bei Marcel und erweist ihm einen allerletzten Liebesdienst, buchstäblich. Eine Zeitung wird schreiben: «Er sodomisierte einen Alten, bevor er Sterbehilfe leistete.»
Zwischen Mythos, Fantasie und Realität
Léo wird Schäfer auf dem Hof. Zeit ist vergangen. Léo hat jetzt einen dichten Bart. Bei der ersten Begegnung mit Marie auf der Weide trug sie ein Gewehr. Jetzt hat Léo eines umgehängt. Er schläft, zur Sicherheit der Tiere, bei den Schafen im Stall. Eines Nachts wacht er auf, draussen heult ein Wolf. Léo geht hinaus ins Stockfinstere. Als es hell wird, trägt er ein Lamm in den Armen. Ein Wolf erscheint. Mensch und Tier stehen sich gegenüber, Aug in Aug. Immer mehr Wölfe kommen, ein ganzes Rudel. «Solange wir stehen, sind wir sicher.» Der Ausgang dieser Mensch-WolfBegegnung ist offen. Traum oder Wirklichkeit?
Alain Guiraudies Film entfaltet auf irritierende Weise eine eigentümliche Faszination auf unterschiedlichen Ebenen. Es geht um Beziehungs- und Geschlechterwirren, um Begehren und Bedrohung, um Leben und Sterben, um symbolträchtige Bilder zwischen Mythos, Fantastik und realer Welt.
Rester vertical
Regie: Alain Guiraudie
Ab Do, 3.8., im Kino