Farbige Kisten, Stofffetzen, Fellstücke und ein paar Totenköpfe: Mehr braucht es nicht, um 200 Jahre alte Sagengestalten zu neuem Leben zu erwecken. Das finnische Nationalepos «Kalevala» ist bevölkert von Zauberern und Zyklopen, Tieren, Hexen und magischen Gegenständen.
Mit den unterschiedlichsten Mitteln zaubert das Erzählquartett Uffjäiden immer neue Geschichten aus den Kisten: Felle verwandeln sich in Gebirge, die Bühne wird zum Meerbusen, eine Stoffbahn zum Totenfluss. Durch die Imagination entstehen ganze Landschaften. «Und was war am Anfang?», fragt ein Darsteller. Denn auch die «Kalevala» kennt einen Schöpfungsmythos: Die Welt sei aus dem Ei einer Tauchente entstanden.
Grossstadtlegenden ergänzen die alten Sagen
Mindestens so wichtig sind im Stück «Urbana Kalevala» die urbanen Legenden: So erzählt das Quartett rund um Marius Kob, Lisa Wilfert, Christian Pfütze und Ralph Tristan Engelmann vom Maulwurfsmann, der seit 32 Jahren an einem kilometerlangen Tunnel durch einen Berg gräbt. Oder von den Mondschein-Zwillingen, welche die Sonne fürchten und nur in Schutzkleidung das Haus verlassen. Es sind Geschichten, die das Internet in Massen hergibt und die auf den ersten Blick wenig mit finnischen Sagen zu tun haben. Figurenspieler Marius Kob findet dennoch Parallelen: «Diese geheimnisvollen Einzelgänger, die sich eine eigene, merkwürdige Welt erbauen und wie Zauberer durch die Welt streifen, erinnern mich an Väinämöinen, die Hauptfigur in der «Kalevala.». Väinämöinen, der Held mit der magischen Stimme, ist eine Mischung aus Schamane und mythischer Gottheit.
Der Kontrast zwischen den Geschichten aus dem modernen Leben und aus alten Zeiten hat Kob fasziniert. «In unserer wissenschaftlich aufgeklärten Welt besteht das Bedürfnis nach dem Geheimnisvollen, Mystischen, nach dem Beseelten.» Davon lebt auch das Figurentheater: Aus toter Materie entstehen Figuren, die sich durch geschickte Handhabung beleben lassen.
Marius Kob, der seine Figuren selbst herstellt, geht oft vom Material aus, wenn er ein neues Stück kreiert. Er setzt auf die poetisch-bildhafte Kraft der Objekte. «Über belebte Objekte ergeben sich manchmal stärkere Bilder als im herkömmlichen Schauspiel», sagt er. Die innere Brüchigkeit eines Menschen lasse sich etwa durch ein fragiles Objekt stärker visuell darstellen.
Seine Stücke beinhalten auch Formen wie Schauspiel oder Installation. Wer bei Figurentheater nur ans Kasperlitheater oder sonstiges Puppentheater denkt, liegt falsch. Die Bandbreite ist gross: Nebst Puppen- und Objekttheater wird auch mit neuen Medienformen wie etwa der Videotechnik experimentiert. Und wie im Schauspiel haben sich in den letzten Jahren die Formate erweitert: So findet Figurentheater etwa an einem Parcours oder in speziellen Räumen statt, die sich vom normalen Theaterkontext lösen.
Geprägt durch typisch finnische Lakonie
Der 36-jährige Marius Kob hat sich unter anderem mit seiner riesigen Frankensteinfigur für eine Inszenierung am Theater Basel einen Namen gemacht und leitet seit 2014 das Basler Figurentheaterfestival. Was ihn fasziniert, ist die unkonventionelle Herangehensweise: «Frei mit einem Stoff und einer Geschichte umzugehen, sich nicht in Denk- und Herangehensweisen einschränken.»
Und so lässt er im Stück «Urbana Kalevala» durch unterschiedliches Material Mythen auferstehen. Die Totenköpfe stehen für die Geschichten aus der Vergangenheit. «Wir holen sozusagen die Toten wieder herauf, lassen sie wie geisterhafte Erinnerungen vorbeiziehen», sagt Marius Kob. Und obwohl der Tod ein wiederkehrendes Motiv in den finnischen Mythen ist, hat die «Kalevala» auch humoristische Elemente. Die finnische Lakonie und manchmal auch der pure Schabernack scheinen in der Inszenierung immer wieder durch.
Urbana Kalevala
Sa, 16.6., 22.00
Alte Schmiede Baden AG
Wo die Puppen tanzen
Seit 1994 sind am Figura Theaterfestival alle zwei Jahre nationale und internationale Produktionen zu sehen, welche die grosse Bandbreite des Figurentheaters abdecken – vom bildstarken Figuren-Tanz-Theater über das poetische Objekttheater bis zum klassischen Handpuppenspiel. In Theatern, auf Strassen und Plätzen im aargauischen Baden und Wettingen gehen diesmal auch 20 Schweizer Erstaufführungen über die Bühne. Produktionen, die Sprachkenntnisse erfordern, sind mit deutschen Übertiteln zu sehen, einige auch in Gebärdensprache.
Das Festival eröffnen die britischen Theatertruppen Hijinx und Blind Summit mit dem Stück «Meet Fred»: Im Mittelpunkt steht Fred, der lieber ein ganz normaler Mensch als eine Puppe wäre und sich die urmenschlichen Fragen stellt: Wer bin ich, und wer wäre ich gerne? Ein weiteres Highlight ist die niederländische Band BOT mit Instrumenten aus rostigen Ölfässern, klappernden Eisenbeschlägen oder maschinenähnlichen Musikapparaten. Sie zeigen mit ihrer Performance «Ramkoers» («Kollisionskurs»), welch breites Spektrum das Figurentheater umfasst. Näher am klassischen Figurentheater ist etwa die Schweizer Truppe KNPV mit ihrer rabenschwarzen Actionkomödie «Fünf Gründe, warum Delfine böse Tiere sind». Mit Klappmaulfiguren und filmischen Techniken erzählt sie von der Bankangestellten Melanie, die in jedes erdenkliche Fettnäpfchen tritt und schliesslich feststellt, dass es sich lohnt, für die eigenen Werte einzustehen.
Figura Theaterfestival
Di, 12.6.–So, 17.6.
Baden, Wettingen AG
www.figura-festival.ch