Dieses Puppentheater ist kein Kinderkram. Die sechs Figuren im Stück «Clowns’ Houses» stehen nicht auf der Sonnenseite des Lebens: Ein alter, einsamer Mann stopft sich vor dem Fernseher einen Teller Spaghetti rein. Ein anderer mit bösen Augen zählt an seinem Schreibtisch Dollarnoten. Eine Frau mit bleichem Gesicht, dunklen Augenringen und Lockenwicklern im verfilzten Haar schrubbt ihre Wohnung. Eindrücklich, wie lebensecht der Ausdruck der Tischpuppen und Marionetten des Merlin Puppet Theatre wirkt.
Die beiden griechischen Puppen- und Maskenbauer Dimitris Stamou und Demy Papada haben mit ihrem Merlin Puppet Theatre seit 2001 an zahlreichen Festivals in ganz Europa teilgenommen und mehrere Preise erhalten. Sie betreiben das Puppenspiel in unterschiedlichen Facetten und experimentieren mit Kunstformen wie dem Schattenspiel oder Video. In ihren Stücken werfen sie einen kritischen Blick auf die Gesellschaft; die schräg-morbide Ästhetik erinnert an Filme von Tim Burton.
Im aktuellen Stück «Clowns’ Houses» leuchten sie in das Innere eines Hauses, das von einsamen Gestalten bevölkert ist. Ihre Träume haben sie längst aufgegeben: Sie vegetieren alleine in einer Wohnung vor sich hin, sind im Alltag gefangen und pflegen ihre Neurosen.
Ausser Rand und Band
Der Trott wird durchbrochen, als Gegenstände ein Eigenleben entwickeln. Der ausser Rand und Band geratene TV-Apparat erschlägt den einsamen Fernsehgucker. Und der geldgierige Mann am Schreibtisch beginnt plötzlich zu würgen und spuckt Münzen aus. Das Elektrokabel der putzenden Frau fängt an zu tanzen – und schlingt sich um ihren Hals. Ein Albtraum. Selbst das Tête-à-Tête im Mondlicht endet mit einem barbarischen Akt: Die Mondsichel köpft die Figur.
Tanz um die Erinnerung
Das ist bei aller Tragikomik keine leichte Kost. Dass sie auch anders können, zeigt das Merlin Puppet Theatre in einer weiteren Produktion, das am Festival Territori zur Schweizer Erstaufführung gelangt. «Noone’s Land» ist ein Stück für die ganze Familie – empfehlenswert für unerschrockene Kinder ab sechs Jahren. Es handelt von der Kreativität, betrachtet durch die Augen einer Vogelscheuche. Da sie immer am selben Ort fixiert ist, muss sie ihre Einbildungskraft spielen lassen.
Um den Verlust von Erinnerungen geht es in der multimedialen Produktion «Panik» der Luzerner Theatertruppe Ultra, die am Festival in Bellinzona auf Deutsch und Italienisch zu sehen sein wird. Im Zentrum steht die 87-jährige Alice Bollier-Plüss, ehemalige Apothekerin, an Demenz erkrankt. Die drei Schauspieler und Performer Orpheo Carcano, Thomas Köppel und Nina Langensand erzählen aus Alices Vergangenheit, ihrem Berufsleben, ihren Lieblingsspielen oder ihren Tanzferien. Oder sie lösen auf der Bühne – als Kontrast zur Wirrnis in Alices Kopf – mathematische Aufgaben. Bis die an Alzheimer erkrankte Alice selbst auftritt und selbstvergessen «Eile mit Weile» spielt oder sich im Takt der Musik wiegt, ein paar Walzerschritte mit Thomas Köppel wagt.
An was sie sich noch erinnert, unterscheidet sich je nach Theaterabend – die Krankheit ist nicht immer gleich präsent. Was zählt, ist die Gegenwart, während Vergangenheit und Zukunft immer weniger existieren. Nina Langensand, Enkelin von Alice, will sich mit ihrem Stück zwischen Theater und Performance der Welt ihrer Grossmutter annähern. Eine gewagte Gratwanderung zur Erkundigung eines heiklen Themas, das viele beschäftigt.
Entdeckungen
Von der Tessiner Theaterlandschaft kennen auswärtige Bühnenfans vor allem das Teatro Dimitri: Mit dem Sommerfestival «Territori» in Bellinzona, das 2013 auf Initiative des Teatro Sociale gegründet wurde, soll sich das ändern. Einheimische präsentieren hier ebenso ihr Schaffen wie bekannte Künstler aus ganz Europa. Nebst klassischem Sprechtheater stehen Tanz, Performance, Strassen- und Dokumentartheater oder Konzerte auf dem Programm. Die rund 20 Produktionen sind in Theaterhäusern, auf Plätzen, in Villen, Schlössern und Galerien zu sehen – in Italienisch, Deutsch, Französisch, Englisch oder ohne Worte.
Dieses Jahr geht das internationale Festival unter dem Motto «It’s my Life» über die Bühne. Mit Geschichten also, die das Leben schrieb: So beschäftigt sich die walisische Künstlerin Jill Greenhalgh in «Daughter» mit der Mutter-Tochter-Beziehung. Das musikalische Duo Winter’s Family aus Israel und Gäste setzen sich in «No world/ FPLL» mit Schönheit, Multikulturalismus, Kapitalismus oder der Liebe auseinander. Die Tessiner Gruppe Opera Retablo entwickelt in «Köszeg» eine düstere existenzielle Geschichte frei nach Agota Kristofs «Trilogie der Stadt K.». Oder das Zürcher Theater Hora mit geistig Behinderten verhandelt die so- genannte Normalität. Zum Abschluss des Festivals mimt Marie-Caroline Hominal alias Silver im Castello Montebello eine Voodoo-Priesterin auf ihrem futuristischen Altar. In ihrer Tanzperformance setzt sie sich mit der Bedeutung von Energie, Rhythmus und Bewegung auseinander.
Territori
Di, 14.7.–Sa, 18.7.
Verschiedene Orte Bellinzona TI
Weitere Infos unter:
www.territori.ch
Aufführungen
Clowns’ Houses
Mi, 15.7., 20.00
Teatro dell’Oratorio Bellinzona
Ohne Worte, für Erwachsene
Noone’s Land
Do, 16.7., 16.00
Teatro dell’ Oratorio Bellinzona
Ohne Worte, Familienstück für Kinder ab 6 Jahren
Panik
Di/Mi/Do, 14.7./15.7./16.7.
Jew. 18.15
Villa dei Cedri 2 Bellinzona
Italienisch und Deutsch