Als kleiner Junge wähnte sich Sidi Larbi Cherkaoui auf Reisen, wenn er vom flämischen Städtchen Hoboken mit dem Tram ins nahe Antwerpen fuhr. Die Nase an die Scheibe gedrückt, liess er die Bilder der Umgebung wie im Kino an sich vorbeiziehen und träumte. Ein Reisender ist er bis heute geblieben, saugt unterschiedliche kulturelle Einflüsse in sich auf und macht daraus etwas unvergleichlich Eigenes.
Der 1976 geborene Cherkaoui ist einer der begehrtesten zeitgenössischen Choreografen, mit vielen Preisen ausgezeichnet und mit seinen Arbeiten auf der ganzen Welt präsent. «Meine Themen haben stets mit Lernen, mit neu zu Lernendem zu tun und damit, die Dinge aus einem anderen, naiveren Blickwinkel zu betrachten», sagt Cherkaoui in einem filmischen Porträt.
Anders als sein arabischer Name vermuten lässt, hat er helle Haut und Haare. Mit seinem marokkanischen Vater – er war muslimischer Arbeitsimmigrant – und einer belgischen, katholischen Mutter wuchsen er und sein älterer Bruder in einem Vorort Antwerpens in prekären Verhältnissen auf. Sparen war eine Notwendigkeit, und so trug der Jüngere die Kleider des älteren Bruders aus. Wie ein «Secondhand-Sohn» fühlte sich Cherkaoui manchmal, wurde wegen seiner Kleidung und seines arabischen Namens in der Schule gehänselt. Wie jedes Kind wollte er wie die anderen sein und schaffte es doch nie ganz, wie er selber sagt. Daheim wurde französisch gesprochen, in der Schule flämisch. In der Koranschule lernte er Arabisch.
Später begann er, ein guter Lateinschüler, Französisch und Englisch zu studieren. «Wäre nicht Tanz in meinem normalen Leben präsent gewesen, wäre ich vielleicht Mathematiker geworden», sagte Cherkaoui einmal in einem Interview. Sprache, das Wort, blieb für ihn wichtig, ein dem Tanz gleichwertiger Ausdruck: «Einige Dinge kann man sagen, andere tanzt oder singt man.» Alle seine späteren choreografischen Arbeiten scheinen in der Kindheit angelegt.
Die Liebe zur Musik
Früh hatte Larbi den Wunsch, einmal Musiker zu werden. Wenn die ganze Familie wie jedes Jahr im Sommer Richtung Marokko fuhr, lief im Auto die ganze Zeit andalusische Musik, diese Mischung aus spanisch-arabischem Lebensgefühl, und tröpfelte tief in die Poren des Kindes.
Sein Name Cherkaoui bedeutet so viel wie «der aus dem Osten kam». Im orientalischen, aber auch im asiatischen Raum fühlt sich der Choreograf und Tänzer frei, und da zieht es ihn immer wieder hin. 2008 hatte «Sutra» Premiere, ein Stück, das er zusammen mit Mönchen aus dem Shaolin-Kloster in der mittelchinesischen Provinz Henan erarbeitet hatte. Für den Choreografen ist eine kulturelle Begegnung dann echt, wenn beide Seiten davon profitieren.
Kampfsport hatte den jungen, sportlichen Cherkaoui früh fasziniert. Im Fernsehen hatte er alle Bruce-Lee-Filme gesehen und bewundert den Kung-Fu-Heroen bis heute. Der macht nicht viel anderes als Cherkaoui heute: sich eine fremde Technik auf sehr individuelle Weise anzueignen und zu modifizieren.
Der Autodidakt
Wenn Cherkaoui mit der berühmten Flamenco-Tänzerin Maria Pagès in «Dunas» auf der Bühne tanzt, basieren die Bewegungen auf dem Flamenco. Doch deswegen sieht er sich zu Recht nicht als Flamenco-Tänzer, denn er tanzt die Bewegungen immer leicht anders, so wie es ihm entspricht. Er nimmt sich Freiheiten heraus und liebt die Grenzüberschreitung.
Alles, was er als Tänzer kann, hat sich Cherkaoui selbst beigebracht, indem er andere Leute imitierte und fernsah. Er hatte keinen Basisunterricht; erst später besuchte er in Brüssel die Tanzschule P.A.R.T.S. von Anne Teresa De Keersmaekers. Davor begann seine Karriere mit 19 in der flämischen Kleinstadt Aalst in einer Playback-Truppe mit Showtanzen. Sein Vater war dagegen; ein Mann, der tanzt, konnte nur schwul sein. Cherkaoui liess sich nicht davon abbringen, ein Spätzünder, aber so begabt, dass Alain Platel, ein anderer Star der belgischen Tanzszene, ihn 1998 unbedingt in seiner nächsten Produktion «Iets op Bach» dabei haben wollte. Von da an ging es aufwärts mit seiner zweiten eigenen Produktion. 2000 bekam er in Monaco den «Prix Nijinski» verliehen. Und er arbeitete sogar mit einem der klassischsten Ballette im Westen überhaupt – mit den Ballets de Monte-Carlo.
Ideologische Scheuklappen kennt Cherkaoui nicht. Seine Choreografien sind Recherchen, manchmal intime Duos oder Projekte im grossen Stil wie seine Trilogie «Foi», «Myth» und «Babel». Immer sind es persönliche Fragen, nach kultureller Identität, Werten und deren Wandel, der Bedeutung von Sprache oder Religion. Inzwischen hat Cherkaoui mehr als 20 Choreogra-fien geschaffen, mit berühmten Künstlern zusammengearbeitet, 2010 die eigene Company Eastman gegründet – und reitet von einer Erfolgswelle zur nächsten.
Der Tango
Wie zum Beispiel vor zwei Jahren, um dem Klang und Rhythmus des Tango nachzuspüren. Mit zehn Tango-Profis aus Buenos Aires und zwei zeitgenössischen Tänzern – die Musik traditionell sowie neu komponiert – ist das Stück «Milonga» entstanden. Es ist eine Ode an diesen melancholischen und erotischen Tanz, aufgefrischt durch zeitgenössisches Schrittmaterial und angereichert mit filmischen Sequenzen. 2013 war Premiere in der Romandie; jetzt kommt das Stück zurück in die Schweiz ans Tanzfestival Steps.
Tanzfestival Steps
Do, 24.4.–Sa, 17.5.
Die 14. Ausgabe des vom Migros-Kulturprozent finanzierten Festivals steht unter dem Zauberwort «Austausch». Es präsentiert 12 Produktionen in zahlreichen Schweizer Ortschaften sowie im benachbarten Ausland.
Die Premieren der Highlights
Notations
Do, 24.4., 19.00
Opernhaus Zürich
3 Uraufführungen des Balletts Zürich mit Wayne McGregor und Marco Goecke
You Gee Ti
Sa, 26.4., 19.30
Kurtheater Baden
Inszenierung von Mourad Merzouki mit dem taiwanesischen Modeschöpfer Johan Ku
Swan Lake
So, 27.4., 18.00
Theaterhaus Gessnerallee Zürich
Dada Masilos afrikanischer Schwanensee
Milonga
Do, 1.5, 20.00
Dampfzentrale Bern
Sidi Larbi Cherkaouis experimenteller Tango
www.steps.ch