Manchmal ist etwas Druck nicht schlecht. Ebenso gehören glückliche Umstände dazu, welche den kreativen Prozess befördern. So ist es auch Anna Sommer mit ihrem neuen Album «Das Unbekannte» ergangen: Als Ehrengast des Lausanner Comic-Festivals BD-Fil im September 2017 geladen, sollte es nicht nur eine Retrospektive geben, sondern sinnvollerweise auch ein neues Buch. Somit war die Deadline gesetzt. Zwar hatte Anna Sommer im Frühling vor einem Jahr bereits das kommende Album zu einem Drittel fertig. Was aber gleichzeitig hiess, dass sie auf die Brotarbeit des Illustrierens hätte verzichten, beziehungsweise sie stark einschränken müssen.
Der Künstlerin über die Schulter schauen
Es kam alles gut. Nicht zuletzt durch das Comic-Stipendium der Deutschschweizer Städte Luzern, Zürich, Basel, St. Gallen und Winterthur, das ihr letzten Frühling verliehen wurde. Das bedeutete Luft, und die Preissumme von 25 000 Franken hiess: Zeit haben fürs Comic-Zeichnen. So ist «L’inconnu» entstanden. Und so war es kein Problem, auch auf den diesjährigen Fumetto-Termin die deutsche Ausgabe ihres Buchs «Das Unbekannte» vorliegen zu haben. «Das Stipendium war eine Riesenbefreiung», sagt Anna Sommer zur glücklichen Fügung.
Anna Sommer (*1968) muss für ihr Engagement bei Fumetto nicht von ihrem Wohn- und Arbeitsort Zürich nach Luzern pendeln. Sie logiert während des Festivals als «Artist in Residence» im Hotel Schweizerhof. Eine kleine Werkschau gibt dort in der Lobby Auskunft über ihr Schaffen, derweil sie selber vor Ort arbeitet. Man kann ihr über die Schulter schauen und sehen, was in der Woche vom 14. bis 22. April zeichnerisch entsteht.
Bekannt ist Anna Sommer einem breiten Publikum durch ihre typische Illustrationskunst des Papierschnitts, ihr eigentliches Markenzeichen. Da schneidet sie Formen und klebt einzelne Papierelemente geschichtet übereinander.
Diese Gestaltungstechnik wäre ihr für einen ausgewachsenen Comic schlicht zu aufwendig. Ihr neues Album hat sie wieder mit der Feder gezeichnet. Unverkennbar bleibt Anna Sommer als Comic-Künstlerin auch hier: schwarz-weisse Bilderfolgen in offenen Panels, also ohne Rahmen, ihr besonderer Strich, fein konturierte Figuren, Verzicht auf Schatten, reduzierte Dekors.
Hat Anna Sommer früher auf Text ganz verzichtet oder ihn als Quasi-Legenden unter die Bilder platziert, so hat es in «Das Unbekannte» erstmals Dialoge. Sie verortet ihr jüngstes Album im gewohnten thematischen Universum: Die Realität als Ausgangspunkt für «vertrackte Beziehungsgeschichten», die sie gerne, wie sie sagt, «ins Absurde, Unrealistische wendet». Bei aller Fantasie und Kreativkraft, es brauche «Sachen von aussen, ein Repertoire aus Erinnerungen, Erfahrungsfetzen», um einen solchen Comic zu machen: «Man kann nicht nur aus sich selber schöpfen.» Natürlich ist eine Geschichte nach weisem Plan konstruiert, aber konkret beim Zeichnen auf dem Papier kann es vorkommen, «dass etwas entsteht, das man am Anfang nicht gesteuert hat» – Figuren können eine Eigendynamik entwickeln.
Die grosse Herausforderung sei diesmal gewesen, den dramaturgischen Bogen einer langen Geschichte zu gestalten. Frühere Arbeiten waren episodisch, als Sammlung von kurzen Comics angelegt. Jetzt sind es 96 Seiten einer überraschenden Story über einen Babyfund, über Teenager, Lehrerliebe und die allzu menschliche Sehnsucht nach Glück.
Gezeichnete Kindheits-Erinnerungen
Die St. Galler Künstlerin Lika Nüssli (*1973) ist ebenfalls Preisträgerin des Comic-Stipendiums. Vor zwei Jahren hat sie die Auszeichnung erhalten, inzwischen ist ihr erstes grosses Comic-Buch, eine Graphic Novel, erschienen: «Vergiss dich nicht» begibt sich in die Welt der Demenz-Kranken. Es ist die Welt ihrer eigenen Mutter. Doch die Künstlerin betont: «Es ist keine gezeichnete Dokumentation.» Vielmehr liess sie sich vom vor Ort gezeichneten Material inspirieren, um dann ihre Geschichten «daheim am Zeichentisch frei zu gestalten». Ein schweres, ernstes Thema. Für Lika Nüssli hat das Resultat «Tiefe und auch eine Leichtigkeit». Die Zeichnerin taucht, sich erinnernd, ein in die eigene Kindheit und Jugend im St. Gallischen Gossau und das dortige elterliche Restaurant Schäfli, mit einem experimentellen zeichnerischen Zugang. In der eigentlichen Comic-Geschichte liegt der Fokus auf den Figuren im Pflegeheim: die Mutter, mit der die Kommunikation eine gänzlich andere geworden ist als damals, weitere Bewohnerinnen und Bewohner, Pflegepersonal mit den unterschiedlichsten Herkunftshintergründen.
Lika Nüssli ist Illustratorin und hat die Dimensionen des Zeichnens immer wieder erweitert zu sogenanntem Performativen Zeichnen oder in Installationen. Am Luzerner Festival stellt sie nun nicht nur ihr aktuelles Album vor. Sie hat auch auf der Theaterbühne zu tun.
Zeitlich passend startet bei der ersten Zusammenarbeit von Fumetto mit dem Luzerner Theater die Schweizer Uraufführung von Elfriede Jelineks «Schatten (Eurydike sagt)». Die österreichische Nobelpreisträgerin hat die antike Sage um den Sänger Orpheus aktualisiert und neu geschrieben. Sie schildert die Perspektive von Orpheus’ Ehefrau Eurydike.
An jedem Abend entsteht etwas Neues
In Luzern wird das Stück mit einer Schauspielerin, einem Schauspieler, einem Musiker und einer Zeichnerin inszeniert. Lika Nüssli wurde vom Luzerner Theater angefragt: «Ich konnte wirklich nicht Nein sagen. Es ist perfekt für mich.» Denn diese Theaterarbeit ist für sie «wie eine Weiterführung dessen, was ich schon länger mache».
Wie muss man sich das vorstellen: Theater mit Live-Zeichnen? Lika Nüssli erzählt, wie alle an der Entwicklung der Inszenierung gleichberechtigt waren, viel wurde diskutiert und ausprobiert, bis man sich fand in einem Miteinander: «Die Schauspieler reagieren auf meine Bilder, ich reagiere auf ihr Spiel und auf den Text.» Die Theaterarbeit bezeichnet sie als «eine wahnsinnige Herausforderung».
Das sich stets wandelnde Bühnenbild spielt ebenfalls mit. Es sind grosse Rahmenwände, auf die Lika Nüssli mit Tinte und Pinsel zeichnet, und die nach jeder Aufführung wieder abgewaschen werden. Lika Nüssli präzisiert: «Es ist gezielte Improvisation.» Also nicht einfach draufloszeichnen, sondern sich, mit dem Ziel vor Augen, gestalterisch frei ausdrücken.
Erstmals sei es bei ihr als Zeichnerin übrigens der Fall, dass sie auch «sehr ungegenständlich an die Sache herangehe». Eine schöne Erfahrung ihrer Arbeit im Theater: «Es darf jedes Mal etwas Neues entstehen.»
«Zuflucht» im Zivilschutzbunker
Auf einen Stargast verzichtet die neuste Ausgabe des Comic Festivals Luzern Fumetto. Dafür widmen sich zahlreiche Gruppen- und thematische Ausstellungen aktueller Comic-Kunst. Unter dem Patronat von Médecins Sans Frontières macht eine internationale Zeichnerschar beim Projekt «Shelter» (Zuflucht) mit. Darunter der Westschweizer Patrick Chapatte: der renommierte Vertreter der Comic-Reportage baut eine Todeszelle nach – der stimmige Ort für seine gezeichneten Beiträge aus US-Todestrakten. Der besondere Ausstellungsort: eine gigantische Zivilschutzanlage. Im Programm findet sich eine Begegnung der Schweizer mit der brasilianischen Comic-Szene oder der experimentelle US-Zeichner Richard McGuire. Das Kunstmuseum Luzern beteiligt sich bei Fumetto mit einer Ausstellung zum «Comic-Pionier» Gustave Doré (1832–1883).
Comic Festival Luzern Fumetto
Sa, 14.4.–So, 22.4.
www.fumetto.ch
Werkschau: Anna Sommer – Artist in Residence
Sa, 14.4.–So, 22.4. Hotel Schweizerhof Luzern
Anna Sommer
Das Unbekannte
96 Seiten
(Edition Moderne 2018)
Buchpräsentation
Di, 17.4., 20.30 Restaurant Magdalena Luzern
Lika Nüssli
Vergiss dich nicht
176 Seiten
(Vexer Verlag
2018)
Theater: Schatten
(Eurydike sagt)
Von Elfriede Jelinek
Regie: Sophia Bodamer
Live-Zeichnungen: Lika Nüssli
Premiere: Do, 19.4., 20.00
Luzerner Theater, Box
Aufführungen bis Do, 17.5.
Infos: www.luzernertheater.ch