kulturtipp: Michel Frutig, was mögen Sie an Horrorfilmen?
Michel Frutig: Es ist wie Achterbahnfahren: Dir kann im Kino nichts passieren, und trotzdem pumpt das Adrenalin. Ich mag auch das Handwerk hinter den Effekten. In den 80ern haben Filmemacher wochenlang Latexabdrücke geformt und kleine Härchen gebastelt, damit ein Monster möglichst echt aussieht. Diese Liebe zum Detail, die es braucht, um Angst zu erzeugen, finde ich fantastisch. Mich interessiert auch das Spiel mit Urängsten: vor der Dunkelheit, vor dem Unbekannten. Da steckt viel Sozialkritik drin.
Die Horrorfilme «Get Out», «A Quiet Place» oder «Midsommar» begeisterten in den vergangenen Jahren ein breites, anspruchsvolles Publikum und gewannen renommierte Preise. Wie kam das?
Man nennt das Genre «Elevated Horror», also «gehobenen Horror». Lange Zeit, vor allem in den 80ern und 90ern, waren Horrorfilme mit einigen Ausnahmen einfach unterhaltsames Popcorn-Kino. Da ging es um möglichst viel Geschlitze, grausame Morde und Teenager, die man anschreien kann, weil sie sich falsch verhalten. In den letzten Jahren ist es auch für Regisseure mit künstlerischem Anspruch salonfähig geworden, Horror zu machen. Deshalb haben Leute wie Jordan Peele mit «Get Out» angefangen, psychologische und kontroverse Themen mit den Stilelementen des Horrorfilms anzugehen. Ari Aster war mit «Midsommar» oder «Hereditary» sehr erfolgreich. Er hat eine Zielgruppe erschlossen, die sonst eher auf Arthouse-Kino steht.
Schon frühere Horrorfilme wie «Nacht der lebenden Toten» oder «Frankenstein» waren durchaus gesellschaftskritisch.
Horror provozierte schon immer gerne. Und die Narrenfreiheit des Horrorfilms war auch ein Qualitätsvorteil. Man konnte Tabuthemen angehen, die anderen Genres zu heikel gewesen wären. Zudem wurde und wird viel mit kleinen Budgets und ohne grosse Produktionsfirmen herumexperimentiert.
Warum gibt es ausgerechnet im Horror so viele Low-BudgetProduktionen?
Die Fans von Horrorfilmen sind treu. Deshalb finden auch günstige, aber gut durchdachte Produktionen ein begeistertes Publikum. Das ist vielleicht auch der Grund, warum wir unser Festival dieses Jahr unter das Motto «Celebrating the Underdog» stellen. Viele Horrorfans sind eben auch ein bisschen Aussenseiter, sie entsprechen vielleicht nicht ganz der gesellschaftlichen Norm.
Eine viel zitierte Studie sagt, Menschen, die viele Horrorfilme gucken, hätten die Pandemie besser weggesteckt, weil sie psychisch widerstandsfähiger seien. Was halten Sie davon?
Meine Theorie wäre eher, dass Horrorfreaks kein Problem damit haben, einen Monat lang allein daheim zu sitzen und Filme zu schauen. Einige waren vielleicht sogar froh darüber, keine sozialen Verpflichtungen mehr zu haben.
Ein Horrorfilm bringt immer auch etwas über Ängste seiner Zeit zum Ausdruck. Was sagen die Neuerscheinungen über die heutige Gesellschaft aus?
Der Mensch stumpft immer mehr ab. Bis in die 70er waren Horrorfilme harmlos. Was heute in durchschnittlichen Netflixfilmen an grausamen Morden gezeigt wird, wäre vor 15 Jahren verboten worden. Seit zwei Jahren steht «Tanz der Teufel» (1981) in Deutschland nicht mehr auf dem Index. Wenn ich den nach heutigen Standards gucke, denke ich «Jö, ist der putzig!». Ich finde aber, die Art des Horrors erzählt fast mehr über die Region als über die Zeit. Wir zeigen am Festival zum Beispiel den japanischen Film «Best Wishes to All». Er spielt mit der Angst vor einer überalterten Gesellschaft. Das ist in der Schweiz noch kein grosses Thema.
Wie tickt denn die Horrorfilmszene in der Schweiz?
Die Schweiz produziert leider schändlich wenige gute Horrorfilme. Das Schweizer Fördersystem, das grösstenteils auf dem Bundesamt für Kultur beruht, spricht ungern Geld für solche Filme. Und wenn, dann kommt schnell die Auflage, dass sie um 20.15 Uhr in den Sendern von SRF oder ARD programmierbar sein müssen. Als Folge wird das Drehbuch so verwässert, dass es quasi kein Blut mehr enthält. Alles, was ein bisschen auffällt oder anstösst, wird rausgenommen, und was bleibt, ist ein Schwachstromfilm. «Das Missen Massaker» ist leider so ein Beispiel, obwohl Michael Steiner der erfolgreichste Regisseur der Schweiz ist.
Seit letztem Jahr zeigt das Brugggore Filmfestival nicht mehr nur Horror, sondern «Fantastic, Horror and Beyond». Warum diese Öffnung?
Wir haben schon im zweiten Jahr gemerkt, dass wir etwas breiter werden müssen. Sonst wird es einfach langweilig. Man findet ja auch nicht jedes Jahr 40 neue Highlights im Bereich Horror. Es ist aber auch ein kommerzieller Entscheid. Das Brugger Odeon ist ein Kultur-Kino. Deshalb wollten wir auch Filme programmieren, die deren Publikum ansprechen. Die Verbindung zum Dunklen muss aber immer da sein. Die surrealistische Komödie «Daaaaaalí!» oder die Slapstickkomödie «Hundreds of Beavers» sind fernab von Horror, aber sehr, sehr obskur. Mein persönliches Highlight ist «Humanist Vampire Seeking Consenting Suicidal Person». Ein wunderschöner Film der kanadischen Regisseurin Ariane Louis-Seize über eine Vampirin, die ein freiwilliges Opfer sucht, weil sie aus humanitären Gründen niemanden umbringen will. Leider sind Horrorfilme von Regisseurinnen auch heute noch eine Ausnahme.
Brugggore Filmfestival
Das vierte Brugggore Filmfestival zeigt 46 internationale Spielfilme aus dem Genre «Fantastic, Horror and Beyond». Neben Klassikern wie «Bride of Frankenstein» sind auch zahlreiche Schweizer Premieren zu sehen, so auch die fünf Filme, die um den Publikumspreis «Eye of the Beholder» buhlen: «Aberrance» (Mongolei 2022), «Best Wishes to All» (Japan 2023), «Last Straw» (USA 2023), «We Are Zombies» (USA 2023), «You’ll Never Find Me» (Australien 2023).
Mi, 24.4.–Sa, 27.4.
Kinos Excelsior und Odeon Brugg AG
www.brugggore.ch