Mein 81-jähriger Schwiegervater, einer der angesehensten Holztechnologen Polens wie auch ein humanistisch gebildeter Mann (alte Schule!), ist stolz darauf, dass er alle politischen Systeme bisher überlebt hat: Sanacja (Regime der 2. Republik Polen bis 1939), Naziterror und -okkupation, Stalinismus, Kommunismus, Transformation von 1989, 3. Republik. Nun sei er in der Kaczynski-Epoche angekommen, die er aber ebenso überleben werde, wie er auch den Genossen Gomulka überlebt habe.
Bereits Anfang der 1980er erzählte er mir, der Pole sei grundsätzlich ungehorsam: Wenn man ihm sage, er solle nach rechts gehen, so gehe er sofort nach links. Es gibt noch andere Bonmots seiner scharfen Zunge: Jede gute Tat müsse bestraft werden, was die EU nie begreifen werde. Oder: Der Pole sei für Frieden und Wohlstand nicht geschaffen, denn nur in Unfreiheit sei er wirklich glücklich und könne sein Genie vollends entfalten. Kurz gesagt: Die zahlreichen Freiheitskämpfe, der Überlebenswille und die verkorkste Geschichte mit den kurzen Atempausen seien Polens Stärke und Schlamassel zugleich.
Protest, Spiritualität und Geschichte – das sind auch die Schwerpunkte des diesjährigen Culturescapes-Festivals, das polnische Kunst, Musik, Literatur und vieles mehr auf die Schweizer Bühnen bringen wird. Eine Mammutveranstaltung, ein Marathonlauf polnischer Artisten und Denker. Und auch in einem Programmheft muss man auf das Kleingedruckte achten: So lesen wir, dass Marek Cichocki und Pawel Machcewicz Festivalteilnehmer seien. Das Auge eines Kenners leuchtet bei solchen Namen: Machcewicz, der ehemalige Direktor des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig, hat eine Schlacht mit der rechtskonservativen Regierung geschlagen und verloren – gegen «den polnischen Standpunkt», den solch ein Museum vertreten müsse, wie der ehemalige Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski sagt. Und Marek Cichocki, Publizist der renommierten Zeitung «Rzeczpospolita», versteht es, der EU auf die Füsse zu treten und ihren Drang nach Macht kritisch zu beleuchten.
Doch auch bei der Wahl der Künstlerinnen, Musiker und Literaten bewiesen die Festivalmacher ein gutes Händchen. Natürlich dürfen Autorinnen wie Olga Tokarczuk, die Grand Madame der polnischen Literatur, nicht fehlen. Oder auch Monika Sznajderman, zumal die berühmte Czarne-Verlegerin ihren Mann mit im Boot hat: den Prosaisten Andrzej Stasiuk, der im Westen viele Leser seiner östlichen Odysseen begeistert.
Einige intellektuelle Protestler müssen aber zu Hause bleiben: etwa der Dichter Jacek Dehnel, der polnische Oscar Wilde, oder die Autorin Manuela Gretkowska, die Dauerkritikerin der rechtskonservativ-sittlichen Revolution. Und auch Stefan Chwin vermisse ich im Programm, den Danziger Chronisten und Vorzeigeintellektuellen Polens.
Doch das macht nichts: Das Festival beginnt ja unter anderem mit der «Hymne an die Liebe», einer Inszenierung der Theaterregisseurin Marta Górnicka, die einen europäischen Chor gegen den Antisemitismus und den Rassismus, gegen die Xenophobie und die Rückkehr des Autoritären singen lässt. Der Chor mit Theater-Profis und Laien veranschaulicht die Vielstimmigkeit Europas – der Welt.
Polen hat auch schon immer exzellente Jazzmusiker oder Klassikinterpreten (Chopinisten) hervorgebracht. Die junge Jazzbassistin Kinga Glyk ist, kolloquial gesagt, der Hammer, und nicht nur in ihrer Heimat ein aufgehender Stern der Jazzszene.
Musik, Kunst, Film und Literatur der Superlative
Die Komposition «My Polish Heart» des Pianisten und Komponisten Vladyslav Sendecki, der mit seinem Atom String Quartet auftreten wird, bildet sicherlich einen Höhepunkt des Festivals. Das gilt auch für die Retrospektive zum filmischen Werk von Pawel Pawlikowski, dem Regisseur von «Cold War». Oder für die kosmopolitische Performancekunst des polnisch-britischen Künstlers Alex Baczynski-Jenkins.
Apropos Baczynski: Der geniale Dichter Krzysztof Kamil Baczyński verlor leider sein Leben 1944 im Warschauer Aufstand, sein älterer Kollege Czeslaw Milosz überlebte aber den Krieg und schrieb 1953 den Essay «Verführtes Denken» über das Scheitern der Dichter und Intellektuellen, die angesichts der Übermacht der kommunistischen Ideologie sich selbst verleugnen mussten und zu Sklaven des Neuen Glaubens wurden – unabhängig davon, was sie in Wirklichkeit dachten. Es ist erstaunlich, wie aktuell das Buch wieder ist. Nur dass ein Teil der ewigen Protestler heute nach rechts abgebogen ist, würde mein Schwiegervater sagen, und die Kirche gleich mitgenommen hat.
Culturescapes
Sa, 5.10.–Fr, 6.12.
www.culturescapes.ch
Deutsch-polnischer Vermittler
Der vielfach ausgezeichnete polnische Schriftsteller, Publizist und Übersetzer Artur Becker (*1968) lebt seit 1985 in Deutschland. Zuletzt publizierte er den Roman «Drang nach Osten» (weissbooks.w 2019) und den Gedichtband «Bartel und Gustabalda» (Parasitenpresse 2019). Er schreibt Essays für die NZZ u.a. und tritt als Lyrik-Performer auf. (bc)
Highlights am Culturescapes
Ausstellung
- Alex Baczynski-Jenkins: «Such Feeling»
Fr, 27.9.–So, 13.10
Kunsthalle Basel
Performances jeweils Do/Sa/So
Theater
- Marta Górnicka: «Hymne an die Liebe»
Do, 3.10., 20.00
Theater Chur
Sa, 5.10., 20.30
Theater Basel
Ringvorlesung
- Pawel Machcewicz: Polen in Europa – Europa in Polen
Mi, 25.9.–Mi, 11.12., 18.15
Jew. Mi, zweiwöchentlich
Alte Universität Basel
Lesung & Gespräch
- Olga Tokarczuk
Fr/Sa, 8.11./9.11, 18.00/11.00
Literaturfestival BuchBasel Volkshaus Basel
So, 10.11., 11.00
Zentrum Paul Klee Bern
Di, 12.11., 19.30
Literaturhaus Zürich
- Andrzej Stasiuk & Monika Sznajderman: «Polen Gestern und Heute»
Di, 29.10., 19.00
Literaturhaus Basel
Mi, 30.10., 19.30
Literaturhaus Zürich
Musik
- Kinga Glyk (Bass) & Band
Do, 21.11., 20.00
Bücheler-Hus Kloten ZH
Fr/Sa, 22.11./23.11., 20.30/21.45
The Bird’s Eye Basel
So, 24.11., 19.00
Moods Zürich
Mo, 25.11., 20.00
Bistro St. Gallen
Do, 28.11., 20.30
Le Singe Biel
- Vladyslav Sendecki (Klavier) & Atom String Quartet
Fr, 25.10., 16.00
Roche ’n’ Jazz Museum Tinguely Basel
Fr/Sa, 25.10./26.10., 20.30/21.45
The Bird’s Eye Basel
Film
- Pawel Pawlikowski: Retrospektive
Oktober/November im Stadtkino Basel, Xenix Zürich, Circolo del Cinema Locarno & Bellinzona