kulturtipp: Ausgerechnet Thomas Gottschalk, einst gefeierte Gallionsfigur der Samstagabend-Unterhaltung, prophezeite dem klassischen Fernsehen in einem Interview eine düstere Zukunft. Hat er recht?
Oliver Schütte: Das lineare Fernsehen wird nicht verschwinden. Es wird jedoch eine ganz andere Funktion einnehmen, als wir das bisher kannten. Aber das «Lagerfeuer-Fernsehen», wie es Thomas Gottschalk erzeugte, gibt es in Zukunft nicht mehr.
Sondern?
Das Fernsehen wird Bereiche abdecken, in denen lineares Schauen Sinn macht: Sportereignisse oder den Eurovision Song Contest. Übertragungen also, die live gesendet werden. Lineares Fernsehen wird in Zukunft verstärkt nebenher genutzt werden – wie heute schon das Radio.
Im Zentrum des Umbruchs in der Fernsehwelt stehen die Streaming-Dienste. Weshalb sind Netflix und Co. so erfolgreich?
Der Siegeszug der Streaming-Dienste passiert so schnell, weil diese Art des Konsums unserem natürlichen Verhalten entspricht: Wir entscheiden, wann, wo und auf welchem Gerät wir etwas schauen. Die Fremdbestimmung löst sich auf. Zudem gibt mir ein Streaming-Dienst das Gefühl, aufgehoben zu sein. Weil sie Serien von hoher Qualität produzieren und mich mit Genres, die ich mag, gezielt ansprechen.
Mit diesem Konzept scheinen sie vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender unter Druck zu setzen.
ARD, ZDF, SRF und Co. versuchten bisher, ein grösstmögliches Publikum anzusprechen. Dazu produzierten sie Sendungen, die in die Mitte treffen und niemanden abschrecken. Aber es mit jeder Sendung allen recht machen zu wollen, funktioniert heute nicht mehr.
Was sollten sie tun?
Die Öffentlich-Rechtlichen müssen sich den Sehgewohnheiten einer jüngeren Generation anpassen und auf ihre Mediathek setzen. Und zwar auch in den Bereichen Fiktion und Unterhaltung. Sender, die nur interessante Polit-Berichterstattung produzieren, werden nicht wahrgenommen. Wie Netflix sollten auch ARD, ZDF, SRF und Co. versuchen, sich durch ein breites Portfolio stärker als Marken zu profilieren, in denen die Zuschauer sich aufgehoben fühlen.
Serien-Formate scheinen in der heutigen TV-Landschaft die Hauptwährung zu sein. Doch gerade in diesem Bereich ist es doch für die Öffentlich-Rechtlichen besonders schwierig, mit Netflix und Co. mitzuhalten.
Kunst muss risikofreudig sein, sonst ist sie nicht spannend. Das gilt auch fürs Erzählen. Deshalb ist der angelsächsische Raum uns da voraus – die Bereitschaft, sich auf etwas Neues einzulassen, ist höher. Die öffentlich-rechtlichen Sender können da noch etwas lernen und durchaus einmal radikaler sein. Wenn sie das beherzigen, haben sie auch Erfolge.
Das Streaming wird als Demokratisierung des TV-Konsums bejubelt. Schliesslich sagt der Kunde, was er wann sehen will. Ist das so?
In erster Linie mag es so erscheinen. Es gibt bei den Streaming-Diensten eine Freiheit, weil ich mir theoretisch ganz viel anschauen kann. Tatsächlich aber steuert der Algorithmus mich als Zuschauer: Erstens behandeln Netflix und Co. Eigenproduktionen auf den Startseiten logischerweise bevorzugt. Zweitens sorgen die Algorithmen dafür, dass ich mich in einer Filterblase bewege, aus der ich kaum mehr rauskomme. Für mich besteht Netflix aus den Serien und Genres, die mich interessieren. Dabei gäbe es noch viel mehr.
Sie malen in Ihrem Buch ein düsteres Bild: Wenn wir uns nur noch über die Smartphones anschauen, was uns eh schon gefällt, könnte sich dies auch auf den Zusammenhalt der Gesellschaft auswirken.
Seit der Erfindung des Kinos hat das audiovisuelle Erleben extrem stark bestimmt, wie wir Geschehnisse in unserer Gesellschaft über Fiktionales und Non-Fiktionales wahrnehmen. Die Bevölkerung wird künftig unterteilt sein in linear und non-linear Sehende. Ich denke, da steckt eine grosse Sprengkraft dahinter: Es besteht die Gefahr, dass die beiden Gesellschaftsgruppen keine gemeinsamen Bezüge mehr haben.
Aber «Tatort» oder «Game of Thrones» schaffen es auch heute noch, zum Bürogespräch zu werden.
Wenn ich schauen kann, was ich will, wann ich will und wo ich will, werden diese besonderen Momente wertvoller. Deshalb haben auch Public-Viewing-Veranstaltungen so einen Erfolg: Wir erleben mit anderen zusammen in der Kneipe zu einer fixen Zeit ein Fussballspiel oder die neuste Episode von «Game of Thrones». Ich denke, diese Art des Fernsehens ist deshalb so beliebt, weil wir das im alltäglichen individualisierten Konsum nicht mehr haben. So ähnlich wie auch die Vinyl-Platte neben der gestreamten Musik als etwas Besonderes geschätzt wird.
Was verlangt die Zukunft des Fernsehens von uns als Medienkonsumenten ab?
Wir müssen uns bewusst sein, dass wir mit dem TV-Konsum über das Streaming in einer Filterblase leben. Ich wünsche mir, dass wir Menschen uns nicht zu sehr durch den Algorithmus kontrollieren lassen. Dass wir aufmerksam sind und verstehen, was mit uns gemacht wird. Und wir müssen versuchen, dem Bingewatching – dem Serienmara-thon – zu widerstehen. Netflix strahlte 2013 mit «House of Cards» erstmals eine Serie nicht mehr einmal pro Woche aus, sondern stellte sie en bloc bereit. Wenn wir alle Folgen einer Serie auf einmal schauen, erzeugt das erwiesenermassen eine Art Sucht. Die Gefahr besteht, dass wir uns von der Welt abschliessen und ein Volk von Bingewatchern werden.
Die Netflix-Revolution
Oliver Schütte ist Drehbuchautor, Schriftsteller und Publizist. Er studierte Film- und Theaterwissenschaften in Berlin. Ab 1986 arbeitete er zunächst als Autor für Film und Fernsehen und später als Dramaturg. Für sein erstes Drehbuch «Koan» erhielt er 1988 den Deutschen Drehbuchpreis. In «Die Netflix-Revolution» untersucht er die Veränderungen, die Kino und Fernsehen mit sich gebracht haben. Und er beschreibt die Gegenwart und Zukunft, die vom Streaming geprägt sind.
Buch
Oliver Schütte
Die Netflix-Revolution.
Wie Streaming unser Leben verändert
226 Seiten
(Midas-Verlag 2019)