kulturtipp: Frau Lötscher, die deutsche Version der «Sesamstrasse » feiert am 8. Januar ihren 50. Geburtstag. Weshalb wurde ausgerechnet diese Kindersendung aus den USA weltweit zum Hit?
Christine Lötscher: Die Mischung aus Unterhaltung und Belehrung scheint den Nerv dessen zu treffen, was Kinder spannend finden. Aber in meinen Augen lässt sich dieser langjährige Erfolg vor allem über die Figuren erklären, die sind einfach gut gemacht.
Bert, Ernie und die anderen sind alle starke Charaktere.
Ja, diese Puppen sprechen Kinder an, weil sie einen hohen Wiedererkennungswert haben. Man weiss immer genau, was man vom Krümelmonster oder von Bert und Ernie erwarten kann. Gleichzeitig lassen sich innerhalb des klaren Beziehungsfelds dieser Figuren immer wieder neue Geschichten erzählen. Zu guter Letzt geht es auch um ein Phänomen, das man in der Fantastikforschung Weltenbau nennt: Mit ganz wenigen Mitteln entsteht in der «Sesamstrasse» eine total faszinierende Welt, in der es um das reale Leben der Kinder geht, die aber immer auch etwas Freches und Wildes besitzt.
Mich persönlich faszinierte an der «Sesamstrasse» immer das Intro mit diesen Kindern, die ganz frei spielen, «dreckeln» und Blödsinn machen durften. Welches Kinderbild steckt da dahinter?
Den Wandel von Kindheitsbildern kann man anhand von Kinder und Jugendmedien sehr schön ablesen. Die «Sesamstrasse » stammte aus einer Zeit, in der die Idee aufkam, dass Kinder gute Fernsehsendungen, Filme und Bücher brauchen. Dahinter steckt wiederum ein Bild, das bereits in der Romantik aufgekommen war: Kinder sind von Natur aus Künstlerinnen und Künstler, man muss sie einfach fördern, indem man ihnen den Raum lässt, sich zu entfalten. In den Nachkriegsjahren wird das zum Beispiel mit den Büchern von Astrid Lindgren international populär. Und richtig stark setzt sich dieses Kindheitsbild nach 1968 durch.
Somit steckt also viel Zeitgeist in der «Sesamstrasse», wenn es in der ersten deutschen Rahmenhandlung 1978 um Freundschaft, das gemeinsame Spielen und Gastarbeiterkinder geht.
Von Anfang an geht es in der «Sesamstrasse» um eine Gemeinschaft, die man heute als divers bezeichnen würde. Es sollte eine Sendung sein, die alle Kinder anspricht. Ob das wirklich so ist, ist eine andere Frage – vermutlich ist es wohl vor allem eine Sendung für Bildungsbürgerkinder. Aber ja, der Zeitgeist lässt sich wunderbar an der «Sesamstrasse » ablesen: Bis heute greift die Sendung Themen auf, welche die Gesellschaft bewegen und bei denen man denkt, dass sie für Kinder eine Rolle spielen. Das zeigt sich auch darin, dass die «Sesamstrasse » regelmässig Debatten auslöst. Sie geht immer einen halben Schritt weiter, als der allgemeine Geschmack es gut findet, und erhält sich so ein progressives Image.
Diese Art des Bildungsfernsehens lebt heute in Sendungen wie «Checker Tobi», «SRF Kids News» und «SRF Clip und klar» weiter. Was sagen denn diese Sendungen über unseren Zeitgeist aus?
Diese modernen Sendungen sind auf jeden Fall schön gemacht. Aber da steckt halt auch alles drin, was man heute über Wissensvermittlung für Kin der weiss – deshalb wirken sie manchmal auch mehr wie Schulunterricht als Geschichtenerzählen.
Bei der «Sesamstrasse» wie auch beim «Spielhaus» des Schweizer Fernsehens gab es viel Raum für Fantasie, für Musisches und magisches Denken. Das scheint alles etwas abhandengekommen zu sein.
Im Kinderfernsehen und bei Sachbüchern scheint aktuell Lernpsychologie stärker gewichtet zu werden. Das «Spielhaus» mit Franz und René wie auch die «Sesamstrasse» waren nie einfach nur didaktisch – die anarchische Komponente war immer stärker.
…wie beim Krümelmonster.
Was gibt es Schöneres, als zu tun, was sich eigentlich nicht gehört: essen, so viel man will. Für Kinder und Erwachsene hat das etwas Befreiendes. Aber gerade darin verbirgt sich das grosse Alleinstellungsmerkmal dieser Sendungen: Information, Geschichtenerzählen und Spiel werden vermischt. Dabei wird das, was zwischen einzelnen Figuren passiert, stärker gewichtet als die Information, die man vermitteln will. Man nimmt die Kinder ernst. Die Welt wird ihnen nicht mit dem erhobenen Zeigefinger erklärt. Stattdessen geht man auf ihren Humor und ihre eigene Art zu spielen ein, zelebriert auch mal den Unsinn. Zu guter Letzt verleiht das diesen Sendungen etwas Offenes.
Wie ist das zu verstehen?
Franz und René erleben ein Abenteuer, Bert und Ernie diskutieren zusammen. Aber auch die Zuschauer haben das Gefühl, Teil davon sein zu können. Darauf sprechen vor allem Kinder an. Sie spielen dann vielleicht selber weiter, was sie da gesehen haben, nehmen die Figuren und deren Erlebnisse in ihre Fantasiewelt auf.
Tagesthemen special: 50 Jahre Sesamstrasse
So, 8.1., 07.20 Das Erste
50 Jahre Sesamstrasse – Eine Zeitreise
So, 8.1., ab 07.30 Das Erste
50 Jahre Sesamstrasse – Die Geburtstagssendung
So, 8.1., 17.25 KiKA