Bildband: Schnapsenten und Sturzbrechner
Stars wie Kim Kardashian sei Dank, sind ausgeprägte Gesässrundungen bei Frauen gerade in Mode. Das war schon einmal der Fall. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts halfen die Damen jedoch nicht mit einer Schönheitsoperation nach, sondern schnallten sich einfach ein Gesässpolster um.
Die sogenannte Tournure und rund 80 weitere ausgediente Alltags- und Haushaltsobjekte hat Margret Ribbert im Buch «Ausser Gebrauch» zusammengetragen: Hermelinpelz und Dienstmädchenhaube, Rauchverzehrer und Rasierklingenschärfer, Stopfkissen und Schnapsente. Wunderbare Fotos fangen den Charme dieser Dinge ein. Die Begleittexte entführen derweil auf eine Reise durch 300 Jahre, in denen sich Technik und Tagesabläufe, gesellschaftliche Gepflogenheiten und Strukturen wandelten.
Aus historischer Distanz amüsiert da so manches. Der barocke Sturzbecher etwa, der nur auf Zug geleert werden konnte. Oder der Klistierstuhl zur Selbstbehandlung von Verstopfungen. Bestaunen lassen sich diese Gegenstände noch bis am 17. September in der Schau «Ausser Gebrauch» des Historischen Museums Basel.
Margret Ribbert (Hg.), «Ausser Gebrauch – Alltag im Wandel», 224 Seiten 147 Abbildungen, Christoph Merian 2023
Comic: Die Superhelden der Oper
Bei Wagner und seinem Opernzyklus «Der Ring des Nibelungen» hat es alles drin: Mord und Totschlag, Action, Liebesschmachten, Fabelwesen. US-Comiczeichner P. Craig Russell (*1951) bedient sich in seinem neusten Buch nicht zum ersten Mal bei der Hochkultur, die er mit feinem Strich in sein populäres Medium überführt.
Von ihm stammen Adaptionen von Oscar Wilde ebenso wie von Mozarts «Zauberflöte». Russell war mit Arbeiten für US-Mainstreamverlage wie Marvel und DC den Superhelden verpflichtet. Von diesen ist es nicht weit bis zu Richard Wagners Sagengestalten, speisen sich doch die einschlägigen Comics von europäischem Kulturgut – Helden mit besonderen Kräften, da wie dort.
Umfangreich ist der eingedampfte Wagner auch noch mit 450 Comicseiten: «Der Ring», original in 14 Fortsetzungsbänden veröffentlicht, erscheint in der deutschen Fassung als einziges grosses Epos, der Oper angemessen opulent angerichtet mit einem attraktiven Figurenarsenal in abwechslungsreichen Dekors. Es geht zünftig zur Sache im spannungsvollen Geschehen, das Russell in dynamischen Layouts zeichnet. Wagner à l’américaine: Das geht gut.
P. Craig Russell, «Richard Wagners 'Der Ring des Nibelungen'», 448 Seiten, Cross Cult 2023
Sachbuch: Lebenssinn im Wasser
Beim Schwimmen in der Kälte gilt die Faustregel, «dass die Höhe der Wassertemperatur ungefähr der Anzahl Minuten entsprechen sollte, die man im Wasser verbringt». Das ist einer der praktischen Ratschläge, welche die deutsche Buchautorin Kristine Bilkau im Band «Wasserzeiten – Über das Schwimmen» erteilt. Bilkau hat eine lesenswerte Fibel für Wasser- und Landratten geschrieben.
Sie dreht sich um das Schwimmen als sportliche Disziplin und um die literarischen und künstlerischen Bezüge dazu. So schlägt sie von den eigenen Erfahrungen einen Bogen zum englischen Autor D. H. Lawrence und dessen Gedicht «The Third Thing»: «Wasser ist H₂O, zwei Teile Wasserstoff, ein Teil Sauerstoff.
Aber da ist noch etwas Drittes; das erst macht es zu Wasser, und niemand weiss, was dieses Etwas ist.» Oder etwa doch? «Vielleicht besteht das Glück des Schwimmens darin, dass für einen Moment alles im Einklang ist, der Ort, die Zeit und man selbst.» Aber nicht nur: Für Bilkau ist das Schwimmen auch ein Gemeinschaftserlebnis. Denn Schwimmer sind für sie eine Schicksalsgemeinschaft. Sie teilen eine Passion, die sie individuell ausleben, wie in dieser wunderbaren Strandlektüre zu lesen ist.
Kristine Bilkau, «Wasserzeiten – Über das Schwimmen», 125 Seiten, Arche 2023
Sachbuch: Bunter Stilblüten-Strauss
Der deutsche Musikjournalist Michael Behrendt macht sich seinen Reim «über schiefe bis irrwitzige Songtexte aus 60 Jahren deutscher Popmusik», wie der Untertitel lautet. Zum Vorschein kommen in seinen unterhaltsamen Analysen gesungene Stilblüten, unfreiwillig Komisches und schiere Sinnfreiheit. Er macht von Schlager bis Rap und Punk vor niemandem Halt. Sie und viele mehr kommen dran: Udo Jürgens, Bata Illic, Herbert Grönemeyer, Xavier Naidoo, Helene Fischer oder Die Toten Hosen.
Michael Behrendt, «Mein Herz hat Sonnenbrand», 233 Seiten, Reclam 2023
Playlist: www.reclam.de/sonnenbrand
Roman: Zugreise nach Istanbul
Die im Unterengadin lebende Autorin Angelika Overath nimmt ihre Leser mit auf eine Reise von Chur nach Istanbul. In ihrem Roman «Unschärfen der Liebe» verknüpft sie Poesie und Reisereportage zu einer Dreiecksgeschichte rund um die beiden Bündner Alva und Cla und den türkisch-griechischen Baran. Während die Landschaft am Zugfenster vorbeizieht, begibt man sich zusammen mit Baran in einen Assoziationsfluss aus Beobachtungen, Erinnerungen und historischen Exkursen.
Angelika Overath, «Unschärfen der Liebe», 224 Seiten, Luchterhand 2023
Roman: Köstliches Leseabenteuer
Hat Erna ihren Bräutigam Egon gegessen statt geheiratet? Diese Frage stellt sich ein irritiertes Ich im einzigen Roman von Kurt Marti (1921–2017), der nun als Neufassung erscheint. Der Ich-Erzähler macht sich auf, das eigentlich nur geträumte Schicksal Egons zu erkunden und gerät dabei in allerlei Irrgärten. Wer vertrackte Geschichten und experimentelle Erzählformen mag, macht sich einen Tag am Strand mit diesem Kurzroman zum köstlichen Leseabenteuer.
Kurt Marti, «Die Riesin – Eine Nachforschung», 164 Seiten, Wallstein 2023
Roman: Am richtigen Ort
Veronicas Tag beginnt unangenehm. Im Café bleibt ihr ein Stück Brioche im Hals stecken. Doch ihr Retter ist gleich zur Stelle und entpuppt sich zudem als Glücksbote. Er habe eine wichtige archäologische Ausgrabung gemacht, verrät Guiscardo. TV-Frau Veronica wittert eine Topstory mit deftigen Einschaltquoten. Einmal mehr liefert der Mailänder Andrea De Carlo (70) eine raffinierte Mischung aus Lovestory und Gesellschaftssatire. Die perfekte Ferienlektüre – nicht nur in Italien.
Andrea De Carlo, «Das Traumtheater», aus dem Italienischen von Petra Kaiser, 464 Seiten, Diogenes 2023
Comic: Toxische Männlichkeit in Öl
Sie ist eine junge Historikerin, findet aber an der Ostküste Kanadas keine Arbeit und verdingt sich für die Abzahlung ihres Studienkredits zwei Jahre auf nordkanadischen Ölsandfeldern. Kate Beaton schildert in «Ducks» ihre eigenen Erfahrungen bezüglich Ausbeutung, sexueller Belästigung, Drogen und Einsamkeit bei eisigen Temperaturen – und wie sie sich letztlich in die Welt der Comics retten konnte. Eine ebenso erschütternde wie fesselnde Comic-Biografie.
Kate Beaton, «Ducks – Zwei Jahre in den Ölsanden», 448 Seiten, Zwerchfell/Reprodukt 2023
Tagebuch: Die Kraft der Sprache
Der Basler Schriftsteller Hansjörg Schneider, Erfinder der Kommissär-Hunkeler-Romane, schreibt, «um überleben zu können». Das macht er in seinen zwischen 2020 und 2022 entstandenen Tagebucheinträgen im Band «Spatzen am Brunnen» immer wieder deutlich. Mit Melancholie und leisem Humor setzt er sich schreibend mit der Welt auseinander. Ein berührendes und kluges Buch über Leben und Sterben, über Erinnerungen, Freundschaften, die Natur – und über «Sprache als ordnende, rettende Kraft».
Hansjörg Schneider, «Spatzen am Brunnen – Aus dem Tagebuch», 208 Seiten, Diogenes 2023