Gebrochene Rippen, geprellte Hoden, ausgeschlagene Schneidezähne: Der Mann ist übel dran und landet in der Notaufnahme. Sein Nachbar hat ihn in einem Akt von Selbstjustiz so zugerichtet. Denn das Opfer malträtierte zuerst dessen Sexpuppe Lydia, was deren stolzer Besitzer schlecht verkraftete, sodass er zur Tat schritt. Das Gericht bekundete Verständnis und verurteilte ihn zu einer bedingten Haftstrafe.
«Lydia» ist eine von zwölf Fallgeschichten, die der deutsche Autor und ehemalige Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach in seinem neuen Buch «Strafe» aufrollt. Die Geschichten spielen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus, fast immer ist Gewalt im Spiel. Vor allem aber belegen die Fälle, dass Gerechtigkeit und Recht nur am Rande miteinander zu tun haben. Wer Recht spricht, sorgt noch lange nicht für Gerechtigkeit.
Ferdinand von Schirach packt seine Leser nach der bewährten Masche mit Gruselgeschichten – und «erst noch wahr». Diese Literaturform haben auch andere Juristen entdeckt: Die deutsche Rechtsexpertin Sabine Thomas etwa ist mit ihrem Beziehungsbuch «Und konnten es einach nicht fassen» ebenso erfolgreich wie ihr Berufskollege. Sie präsentiert haarsträubende Fälle aus dem Familienrecht, die mit den Strafrechtsgeschichten von Schirach mehr gemeinsam haben, als man meint. Denn auch ihnen liegen Beziehungsdramen zugrunde meist in Verbindung mit menschlichen Instinkten von der Sexualität bis zur gemeinen Gier.
Die Nachteile der heutigen Strafprozessordnung
Ferdinand von Schirach ist einer der führenden linksliberalen Köpfe in Deutschland. Er tritt regelmässig mit seinen Büchern an die Öffentlichkeit und wird als moralische Instanz wahrgenommen. Typisch etwa seine Debatte mit dem Kulturkritiker Alexander Kluge über «Die Herzlichkeit der Vernunft», etwas abgehoben zwar, aber für jedermann verständlich. Die beiden belegen, dass eine folgerichtige Argumentation mit dem Verstand stets wertvoller ist als emotionale Polemik – ganz im Sinn der Erkenntnisse antiker Philosophen.
Der Jurist von Schirach hütet sich in seinen Büchern wohlweislich vor der verbreiteten These, schuldig sei immer das Opfer. Er weiss genau, dass es sich in den meisten Fällen umgekehrt verhält. Eindrücklich illustriert diese Einsicht die Geschichte «Subotnik». Eine junge, türkischstämmige Anwältin wird mit der Verteidigung eines Zuhälters beauftragt. Die Zeugin der Anklage erzählt vor Gericht von den Schandtaten, die sie als Zwangsprostituierte erleiden musste. Der offenkundig schuldige Angeklagte wird dennoch freigesprochen. Die junge Anwältin konnte einen läppischen Verfahrensfehler ausmachen, der für einen Freispruch reichte. Eine Wiederholung des Prozesses war nicht möglich, weil die Zeugin verschwunden war und sich keine neue fand, um über den Menschenhandel zu berichten. «Ich habe es mir anders vorgestellt», sagt die Anwältin über ihren ersten gewonnenen Strafprozess.
Verfahrensfehler wie in diesem Fall sorgen im Band «Strafe» verschiedentlich für «Ungerechtigkeit» nach menschlichem Ermessen. Sollte die Justiz deshalb besser auf die Strafprozessordnung verzichten? In einem Interview mit dem «Tagesspiegel» nimmt von Schirach Stellung zu dieser Frage: «Heute bin ich mir sicher, dass Strafprozessordnungen zu dem Bedeutendsten gehören, was die Aufklärung hervorgebracht hat. Aber es ist nicht immer einfach, mit ihnen zu leben.»
Buch
Ferdinand von Schirach
Strafe
189 Seiten
(Luchterhand 2018)
Ab. 5.3. im Handel