Zwei Generationen trennten den Bündner Alberto Giacometti und den Westschweizer Ferdinand Hodler. Erst nach Hodlers Tod beginnt Giacometti seine künstlerische Ausbildung in Paris.
Dieser altersmässige Abstand hat sich künstlerisch niedergeschlagen: Die Werke des «Giganten» der Schweizer Kunst der Jahrhundertwende und diejenigen des «Monuments» der Nachkriegsmoderne haben auf den ersten Blick wenig Berührungspunkte. Hodlers streng komponierte, vorsichtig ausbalancierte Figuren- und Landschaftsbilder kontrastieren mit Giacomettis zerbrechlicher, roher Malerei und Plastik. Sie scheinen einem anderen Jahrhundert anzugehören.
Die Gegenüberstellung schärft den Blick
Die beiden Frauenfiguren «Linienherrlichkeit» und «Femme de Venise VIII» belegen diesen Gegensatz. Sie sind in den reifen Schaffensjahren der Künstler entstanden und werden nun in Winterthur zusammengeführt. Hodlers Frauenfigur im grossformatigen Ölgemälde «Linienherrlichkeit» nimmt kraftvoll Raum ein. Sie schreitet in einen für Hodler typisch kargen Raum und umschliesst diesen in einer ausholenden Bewegung. Das Bild feiert die Linie.
Giacomettis Figuren sind dagegen fragil und isoliert, ihnen fehlt die kraftvolle Bestimmtheit der Bewegung und Linie der hodlerschen Gestalten. Die «Femme de Venise VIII» mit ihren eng am Körper anliegenden Armen nimmt, so scheint es, keinen Raum ein. Die Figur zieht sich zusammen und charakteristisch in die Länge. Sie löst sich in die Fläche auf und zerfällt in der perspektivischen Ansicht.
In der Winterthurer Sommerschau lässt sich der Blick auf die beiden grossen Künstler schärfen. Die Ausstellung macht inhaltliche und formelle Gemeinsamkeiten zwischen den Werken sichtbar. Sie erlaubt, die Künstler in ihrer Eigenart neu zu sehen. Dies ist in der Tat eine besondere Hommage zu Hodlers 100. Todestag. In der Gegenüberstellung mit Alberto Giacometti wird fassbar, worin die nachhaltige Wirkung seiner Kunst auf die nachfolgenden Künstlergenerationen gründet.
Ringen mit der Ästhetik des Vorbilds
Ferdinand Hodler war mit Alberto Giacomettis Vater Giovanni befreundet und für die künstlerische Entwicklung des jungen Alberto sehr wichtig. Den Künstlerfreunden seines Vaters – neben Hodler auch Giovanni Segantini und Cuno Amiet – fühlte sich der junge Künstler eng verbunden. Der Oltner Kulturschaffende Peter André Bloch schreibt: «Ihre ästhetischen Überzeugungen waren es, die er in immer neuen Erfahrungen erweiterte, für sich vertiefte und in ihr Gegenteil verkehrte.» Spuren dieser Auseinandersetzung und des Ringens mit der Ästhetik des Vorbilds sind in Winterthur zu finden. Auf formaler Ebene sind diese im malerischen Frühwerk am deutlichsten zu erkennen, beispielsweise im Selbstporträt Giacomettis von 1923. Aber auch im zeichnerischen Werk gebe es bislang wenig beachtete Parallelen, wie Kurator David Schmidhauser sagt.
Fragestellungen des Menschseins
In der Präsentation von über 70 Werken aus allen Phasen, darunter Hauptwerken und solchen, die noch nie öffentlich zu sehen waren, unterstreichen die Kuratoren die inhaltlichen Gemeinsamkeiten. Im Dialog mit Giacometti tritt das Existenzielle von Hodlers Werk in den Vordergrund. Es wird klar, dass er auf dieser Ebene nachhaltig auf Giacometti wirkte. Hodlers «permanente Befragung der menschlichen Existenz» war ihm Vorbild für seine eigene Formfindung jenseits der ästhetischen Prinzipien der (Gross-)Vätergeneration.
Die Ausstellung versammelt in thematischer Gliederung Einzelfiguren und Figurengruppen der Künstler zu Dialogpaaren. Sie zeigt die intensive Selbsterkundung beider Künstler in Selbstbildnis sowie Bildnissen von Angehörigen. Insbesondere in den thematischen Kapiteln «Liebe und Leiden» und «Zeichnung als Formfindung» stellt sie spannende Dialogpaare vor.
Auf Hodlers berührenden Bilderzyklus der kranken und sterbenden Geliebten Valentine Godé-Darel antwortet Alberto Giacomettis eindringliches Porträt seiner kranken Mutter Annetta. Hodler und Giacometti haben sich konsequent an den «grundlegenden Fragestellungen des Menschseins» abgearbeitet. Durch ähnliche Strategien der Repetition und tastenden Formfindung haben sie künstlerische Antworten gefunden, die ihre Zeit überragen.
Aufbruch der Winterthurer Museen
Unter dem Namen Kunst Museum Winterthur sind seit 2017 das Kunstmuseum Winterthur und das Museum Oskar Reinhardt institutionell zusammengeführt worden. Die hochkarätige Ausstellung ist laut Veranstalter als «Zeichen der Vereinigung zu verstehen – und als programmatischer Aufbruch der Winterthurer Museumslandschaft».
Ferdinand Hodler – Alberto Giacometti. Eine Begegnung
Sa, 21.4.–So, 19.8.
Kunst Museum Winterthur