Der Schweizer Fotograf Thomas Kern zimmert sich eine Dunkelkammer. Hallo, möchte man ihm zurufen, wir sind in der digitalisierten Welt angekommen. Da braucht kein Mensch eine Dunkelkammer mehr, um Fotoabzüge zu entwickeln. Heute heisst es: Klick – und das Bild ist fertig.
Eine Konsequenz dieser Entwicklung: Die Fotoagenturen sind überflüssig geworden und verschwinden. Die Bildermacher können den Vertrieb ihrer Aufnahmen selber steuern, verlieren aber ihren Verkaufskanal. Wie bei jeder neuartigen Entwicklung ist auch die digitalisierte Fotografie zweischneidig: Sie führt zu einem radikalen Paradigmenwechsel – mit Vor- und Nachteilen.
Begleitung über einen langen Zeitraum
Die Szene mit der Dunkelkammer ist im Dokumentarfilm «Shadow Thieves» von Felix von Muralt zu sehen. Er hat fünf Freunde befragt, wie die Digitalisierung der Fotografie ihren Berufsalltag verändert hat. Der Filmer begleitete sie verschiedentlich bei der Arbeit – über einen langen Zeitraum. Felix von Muralt hat diese Dokumentation gewissermassen in der Freizeit erledigt, «wenn ich gerade Lücken hatte».
Der Filmautor machte sich einen Namen als Kameramann von Regisseuren wie Xavier Koller. 2016 erhielt er den Schweizer Filmpreis.
Das Projekt begann 1998, als sich die Bedeutung der digitalen Fotografie noch nicht abzeichnete. Erst drei Jahre später etablierte sie sich auf dem Markt.
Von Muralt hat sehr unterschiedliche Charaktere ausgewählt: Der Franzose Jean François Joly lässt sich bei seiner Arbeit von einem weltanschaulichen Impetus antreiben. Er betont den politischen Charakter seiner Fotografie. Ganz anders der Deutsche Maurice Weiss. Er ist der Pragmatiker, der sein Geschäft den wirtschaftlichen Erfordernissen agil anpasst. So fotografierte er früher für den «Spiegel», jetzt ist er für die deutsche Bundesregierung tätig. Weiss hat erkannt: «Die Nachfrage nach Bildern ist enorm.» Genau das ist die Chance der digitalen Fotografie.
Der bunteste Vogel ist Tomo Muscionico, ein weltgewandter Fotokünstler, der etwa bei einer Session mit dem englischen Schriftsteller Salman Rushdie zu sehen ist. Muscionico scheut sich auch vor pikanten Sujets nicht und begleitet Stripperinnen in Las Vegas bei ihrer Arbeit.
Das käme wahrscheinlich für den Fotografen Luca Zanetti kaum infrage. Er ist auf einem Velotrip durch Kolumbien zu sehen, den er digital dokumentierte und auf einem Blog kommentierte. Das ist die moderne Form des Reisetagebuchs des letzten Jahrhunderts.
9/11 zeigte die Vorteile der digitalen Fotografie
Die Initialzündung der digitalen Fotografie lässt sich exakt datieren – 9/11 im Jahr 2001. Die Attacke auf das World Trade Center und das Pentagon hielt zahlreiche Zeugen zum Fotografieren an. Die Besitzer einer digitalen Kamera waren beim Verkauf der Bilder offenkundig im Vorteil, weil sie die Bilder gleich übermitteln konnten.
Der New Yorker Fotoexperte Fred Ritchin kommentiert den Wandel kritisch. Er ortet in der Flut visueller Eindrücke eine Überforderung der Medienkonsumenten: «Je mehr Bilder es gibt, desto weniger sehen wir.» Tatsächlich fällt heute etwa die Unterscheidung zwischen «echt» und «falsch» schwerer denn je. Zumal die Grenzen verschwimmen: Was heisst «gestellt» und was «zufällig»?
«Shadow Thieves» ist ein sehenswertes Zeitdokument, das einen Sachverhalt erhellt, den zwar alle kennen. Dessen Hintergründe entziehen sich aber dem Laien, und dessen Weiterungen sind noch nicht in allen Teilen abzusehen. Sicher ist für von Muralt, dass die Ansprüche an die Fotografen weiter wachsen: «Sie tragen mehr Verantwortung für ihre Bilder.» Sie müssen sich zudem um eine eigenständige Handschrift bemühen, «damit ihre Autorenschaft erkennbar ist».
Filmer Thomas Kern dürfte unterdessen seine Dunkelkammer fertiggestellt haben. Er wird sie professionell wenig nutzen. Denn Kern arbeitet jetzt – neben seinen Fotojobs – als Bildredaktor bei der News-Plattform swissinfo.ch der SRG.
Shadow Thieves
Regie: Felix von Muralt
Ab Do, 31.5., im Kino