Seit Jahren halte ich Vorlesungen in Schulklassen. Fazit: Hut ab vor den Lehrpersonen! Sie sind Zeugen, wie die Gesellschaft sich verändert. Gehört doch zu ihren Aufgaben, neben dem täglichen Stundenplan, Schulkinder zum eigenständigen Denken zu führen. Ihre Persönlichkeit ist noch nicht geformt, ihre soziale Kompetenz wenig entwickelt. Weil Kinder immerzu ihre Grenzen testen.
Dabei hat sich einiges geändert. Antiautoritäre Erziehung? Das war gestern. Heutzutage lassen sich die Lehrpersonen nicht alles gefallen. Zum Glück. Früher sassen vor mir etwa 60 Kinder aus zwei Klassen im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren. Früher hätte sich niemand einen Ausrutscher getraut, geschweige auch nur daran gedacht. Schriftstellerin = Respektsperson! Heute gilt das nicht mehr. Heimlich oder extrem bewusst sehnt sich mein jugendliches Publikum nach einem intensiven Erlebnis. Kinder in diesem Alter sind interessiert, wissbegierig. Nach den ersten Fragen denkt die Schriftstellerin, der Anfang ist gemacht, jetzt kann es problemlos weitergehen.
Aber Vorsicht! Die Kinder haben ihre Zurückhaltung verloren. Jemand hebt die Hand, stellt eine ausfällige Frage. Schallendes Gelächter. Da muss eine Autorin blitzschnell kontern. Ich selbst habe meine eigene, zugegeben etwas fiese Methode. Ich bringe beide Klassen dazu, einen Schwenk zu machen und spöttisch über den Querulanten herzufallen. Der sich mit verlegenem Grinsen duckt. Für mich ist das kein Problem, ich habe eine lockere Zunge. Aber es ist nicht jedermanns Sache. Jedenfalls uff! Wir können weiter machen. Und die Kinder stellen unweigerlich ihre Lieblingsfrage: «Wie viel verdienen Sie?»
Da lohnt es sich, ehrlich darüber zu diskutieren. Danach kann ich ihnen eine Geschichte vorlesen. Wenn möglich eine lustige, traurige haben sie nicht gerne. Ich kann ihnen aber auch skurrile Sachen erzählen: von wütenden Kamelen, die ihren Treibern ins Gesicht spucken. Oder von einem 13-jährigen Indianermädchen, Darstellerin in einem Film, die Schiss vor einem Pferd hatte und durch ein gleichaltriges Mädchen aus Solothurn ersetzt werden musste!
Das gibt mir Gelegenheit, das unendlich traurige Schicksal der amerikanischen «First Nations» zu schildern. Denn mein Ziel ist stets ein didaktisches. Nach der Stunde wollen die Kinder eine Unterschrift – meistens auf Zetteln, die immer kleiner werden – und stürmen glücklich aus der Klasse. Sie hatten Spass, aber sie haben auch einiges dazugelernt. Und sei es nur, dass wütende Kamele spucken! Das alles ist recht amüsant. Schwieriger wird es bei Halbwüchsigen, aus Prinzip ablehnend.
Vor ein paar Jahren kannten fast alle Mädchen meine Bücher. Die Jungen, scheinbar recht uninteressiert, liessen sich mit einer spannenden Sequenz «mitziehen». Und heute? Social Media, Streaming, Tiktok, und ach, das ewige Handy. Sie haben die Kids erobert. Das Gehirn ist es gewohnt, hin und her zu hopsen. Wer interessiert sich noch für Bücher? Keine Lust mehr, zu anstrengend, nicht schnell genug.
Kürzlich stand ich in einem Schulzimmer voller gelangweilter Teenager. Die Lehrerin stellte mich vor. «Hier ist die bekannte Schriftstellerin Federica de Cesco. Ihr habt sicher alle schon ein Buch von ihr gelesen?» Peinliches Schweigen. Dann hob ein Mädchen die Hand: «Meine Grossmutter hat sie gelesen.» Die Lehrerin machte ein betroffenes Gesicht, und ich brach in Lachen aus. Die Jugendlichen starrten mich an. Da stand vor ihnen eine weisshaarige Oma, dünn wie ein Strich, die sich kaputtlachte. Es ist immer das gleiche Schema. Bevor ich in die Klasse komme, haben die Jungen ihre Rucksäcke auf die Stühle geschmissen, ihre Plätze bereits reserviert. Ganz vorne, natürlich. Die Mädchen belegen die hinteren Reihen.
Was mich stets fasziniert, ist die Körpersprache. Die Mädchen sitzen leicht seitwärts, halten den Kopf schräg. Einige spielen mit ihren Kugelschreibern. Ihr Ausdruck ist distanziert, skeptisch. Die Jungen strecken die Beine weit vor, verschränken ihre Arme vor der Brust. Geringschätzige Ablehnung. Das kann ja heiter werden. Mein Adrenalinspiegel steigt, was natürlich keiner merken darf. Zunächst geht es darum, ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Zu diesem Zweck habe ich jedes Jahr eine aktuelle Story parat. In diesem Jahr etwas Spezielles.
In Paris, in der ehrwürdigen Opéra Bastille, wurde kürzlich die Barockoper «Les Indes Galantes» von Jean-Philippe Rameau neu und subversiv inszeniert. Auf der Bühne: die Musici di Roma. Dazu drei Soprane, ein Tenor – und 30 Typen aus der Hip-Hop-Szene, in ihrer Kluft: weite Jeans, Mützen, Jacken mit Kapuzen. Und in dieser Aufmachung sollten sie die «Zeremonie der Friedenspfeife» und den «Tanz der Schamanen» vorführen. Undenkbar!
Aber der Regisseur hatte seine eigenen Ideen. Folglich erzähle ich zunächst vom «Casting» – von der Auswahl der Darsteller. Und davon, wie die aufmüpfigen Kids zahm wie Lämmer wurden. Weil man sie als Profis behandelte. Mit Vertrag, Gage und allem, was dazugehört.
Und wie sie bald merkten, dass diese Barockoper alles ansprach, was sie in ihren täglichen Leben beschäftigte: Umweltprobleme, Gewalt, Rassismus, Prostitution. Und wie sich allmählich zeigte, wie wissbegierig und begabt sie eigentlich waren. Kurzum, die Premiere fand vor 1000 Leuten statt. Die vorlauten Kids bibberten vor Lampenfieber, hätten sich am liebsten verkrochen. Aber sie wollten zeigen, was in ihnen steckte. Ihr Auftritt war eine Wucht. Sie erlebten eine Standing Ovation, fielen sich heulend in die Arme.
Während ich rede, bemerke ich, wie sich die Körperhaltung der Schüler verändert. Vornübergebeugt, Beine angezogen, Ellbogen auf den Knien. Jetzt sind sie ganz Ohr. Wir können uns unterhalten. Vieles wird zur Sprache gebracht: Klimaveränderung, Zerstörung der Natur.
Wir diskutieren über Politik und – vorsichtig – über Religion, über wissenschaftliche Erfolge, gute und böse. Die Jungen stellen Fragen. Teilweise anspruchsvolle Fragen. Die Mädchen auch, aber verhaltener, was mich gehörig auf die Palme bringen würde, wüsste ich nicht, dass sie sich bald zu selbstbewussten jungen Frauen mausern. Inzwischen wird pubertiert, wie es sich gehört. Und wenn ich die Klasse verlasse, fühle ich mich erheblich «groggy», wie man sagt, bin jedoch zufrieden: So, ich habe einige Saatkörner gesetzt, in der vorsichtigen Hoffnung, dass sie keimen.
Federica de Cesco
Federica de Cesco kam 1938 im norditalienischen Friaul zur Welt. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Äthiopien, Frankreich, Norddeutschland und Belgien. Sie studierte Kunstgeschichte und Psychologie und zog 1962 in die Schweiz. Mit 15 Jahren hat sie ihren ersten Roman «Der rote Seidenschal» geschrieben, der zum Welterfolg wurde. Seit 1994 schreibt sie auch für Erwachsene. Im Wörterseh-Verlag ist kürzlich ihr Buch «Die Welt durch Wörter sehen – Meine Lieblingsgeschichten » erschienen. Federica de Cesco lebt mit ihrem Mann in Luzern.