So sah das Städtchen Thun einmal aus. Oder auch nicht. Der Basler Künstler Marquard Wocher hat Thun jedenfalls zu Beginn des 19. Jahrhunderts so auf diesem spektakulären Panoramabild festgehalten. Das Werk ist im Thuner Schadaupark an der Aare zu besichtigen in einem bemerkenswert modernen Ausstellungsgebäude, das eine Geschichtslektion über die Schweiz in der Zeit von Napoleon Bonaparte vermittelt.
Alltagsleben
Der Landschaftsmaler Wocher dokumentierte auf seinem Panoramabild das Leben in einer Kleinstadt mit zahlreichen Figuren; die idealisierte Momentaufnahme des damaligen Alltags: Propere Waschfrauen schrubben Kleider an der Aare, adrette Knechte schieben Karren. Oder Bürgersleute, darunter angeblich Wocher selbst, spazieren über den Sinneplatz zusammen mit reizenden Oberländerinnen in ihren Trachten.
Verbergen sich Dramen hinter der Idylle? In einem Haus sitzt ein einsamer, Pfeife rauchender Mann mit seinem Hund am Fenster und sinniert. «Seine Frau ist ihm davongelaufen, weil er Spielschulden machte», erzählen Kinder der Primarschule Aeschi auf einer Audioanlage, die das Gesamtwerk den Besuchern näherbringen soll. Sie haben sich zu den einzelnen Figuren fantasievolle Geschichten einfallen lassen, die das damalige Leben
illustrieren sollen. Denn das Thun-Panorama will nicht nur Geschichtslektion sein, es soll auch Kinder und Jugendliche zu Ideen animieren.
Marquard Wocher (1760–1830) war ein handwerklich hochbegabter Künstler, wenn auch ein etwas weltfremder Zeitgenosse. Er lernte in seiner Jugend das Berner Oberland kennen und war von der Idee besessen, das Städtchen Thun seinen Basler Mitbürgern näherzubringen – mit diesem Panoramabild. Diese Darstellungsform hat ihre Tücken, weil der Gestalter bei der Perspektive beispielsweise immer etwas schummeln muss.
Mit Basler Bürgern
Praktischerweise heiratete der mittellose Wocher die junge und wohlhabende Witwe Anna Maria Fatio, sodass er sich von 1809 bis 1814 genügend Zeit nehmen konnte, das Bild in allen seinen Details zu malen, nicht etwa in Thun, sondern in Basel: Er fertigte zahlreiche Skizzen und Impressionen vor Ort an und setzte diese zu Hause in Basel um. Wocher bestückte das Bild auch kurzerhand mit Basler Bürgern, da er Thun ja lediglich als Besucher kannte.
Hinter dem ganzen Projekt steckte eine Geschäftsidee: Wocher stellte sein Panoramabild mitten in der Stadt Basel an der Sternengasse in einem Rundbau aus und verlangte 15 Batzen Eintritt von den Besuchern. Das Thun-Panorama lässt sich so am besten mit einem modernen Dokumentarfilm vergleichen. Die Basler sollten Eindrücke von einer schönen Stadt vermittelt bekommen, welche die wenigsten kannten.
Mit Betonung auf «schöner Stadt»: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren Städte alles andere als heimelige Touristenorte. Eine moderne Kanalisation fehlte; es muss fürchterlich gestunken haben in den Gassen. Zudem sorgten die Berufsleute für einen permanenten Krach, der den heutigen Strassenverkehr als akustisch milde erscheinen lässt. So gesehen malte Wocher ein Propagandabild, eine Art Ansichtskarte, die zeigte, wie schön Thun doch sein könnte, ohne die Unbilden des harten Arbeitsalltags. Der Tourismus war damals noch bescheiden, die Berner Bergwelt galt vielen als Terra incognita. Die Engländer konnten wegen der Kontinentalsperre die Schweiz noch nicht besuchen. Bonaparte war auf dem Höhepunkt seiner Macht, er marschierte 1812 in Moskau ein. Ein seltsamer Gedanke, wenn man die Idylle von Thun heute betrachtet.
Seit 1961 in Thun
Wochers Geschäftsidee verfing nur halbwegs. Zwar hatte er in den ersten Jahren genügend Besucher, doch wer das Thun-Panorama in Basel einmal gesehen hatte, bezahlte nicht so schnell wieder einen Eintritt. Er versuchte zwar, das Werk vor seinem Tod zu verkaufen, als er bereits verarmt war – vergeblich. Es kam nach seinem Tod in die Liquiditätsmasse des Schuldners Wocher. Die Zeit der Landschaftsmalerei ging damals ohnehin zu Ende, die Fotografie kam auf und verlangte von der Kunst neue Ideen. Das Panorama ging lange Zeit vergessen und gelangte 1961 nach Thun, wo der heutige Ausstellungsort in verschiedenen Etappen gebaut wurde.
Obgleich kein begnadeter Geschäftsmann, genoss Wocher die Anerkennung des Basler Bürgertums. Er malte zahlreiche kleinformatige Porträts von Notabeln. 1824 hatte er gar den Auftrag, das St. Jakobsdenkmal zu bauen, das an die Schlacht an der Birs 1444 erinnern sollte. Die von ihm gewählten Materialien hielten der Witterung indes nicht stand, das heutige heroische Werk mit den schlachtenden Soldaten stammt vom Bildhauer Ferdinand Schlöth, der ein zweite Version bauen musste.
Viele dieser Informationen können die Besucher in Thun über eine Audioanlage hören, die das Leben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts veranschaulicht. Ein Besuch im Schadaupark bedeutet also ein Erlebnis. Man erhält ein Stück Schweizer Geschichte spielerisch vermittelt.
Thun-Panorama
Bis So, 29.11. Schadaupark Thun