«‹Ich gehe die Tür aufmachen, Schatz!› Hermine vernahm die Stimme von Draco, der kurz darauf an der grossen Holztür des Wohnzimmers vorbeiging. Ihre gemeinsame einjährige Tochter Rose auf seinen Armen.» Wie bitte? Hermine und Draco? Was Kennerinnen und Kennern des Harry-Potter-Universums wie eine verkehrte Welt vorkommt, ist in der Fanfiction gängig. Denn Fanfiction ist, wie es der Name bereits verrät, eine von Fans geschriebene Ergänzung oder alternative Handlung zur Originalgeschichte.
Mit dem Internet explodierte die Fanfiction
Auch wenn das Phänomen erst seit einigen Jahrzehnten boomt, gab es Fanfiction schon früher. Ob man Bearbeitungen von Friedrich Schiller oder die unautorisierte Weiterführung von Jane Austens Romanen so bezeichnen will, ist eine Auslegungsfrage. Ein Urheberrecht gab es nicht, und die inspirierten «Fans» waren bekannte Autoren.
Doch spätestens als in den 60er-Jahren die Fernsehserie «Star Trek» ausgestrahlt wurde, begann die Laienherrschaft. Publiziert wurde in selbst gemachten Fan-Magazinen, sogenannten Fanzines. Diese verschickten die Autorinnen und Autoren per Post oder verkauften sie an Science-Fiction-Anlässen zum Herstellungspreis. Und diesen November lancierte ein Team um Lucien Haug und Svenja Viola Bungarten ein Fanfiction-Literaturmagazin namens «Danke». Es soll halbjährlich erscheinen und das Genre wieder aufs Papier bringen.
Doch zurück ins 20. Jahrhundert. Mit dem Internet explodierte die Fanfiction. Aus Chatforen entstanden Plattformen, die immer grösser und professioneller wurden. Heute haben Websites wie etwa fanfiktion.de, archiveofourown.org oder auch wattpad.com Millionen meistens anonyme Nutzerinnen und Nutzer, die dort eigene Geschichten hochladen und die der anderen lesen – alles kostenlos.
Auch Deutschlehrerinnen und -lehrer nutzen mittlerweile Fanfiction, um die Schreibmotivation in ihren Schulklassen zu fördern. Und das nicht ohne Grund: Studien zeigen, dass der Umgang mit Fanfiction die Schreib- und Lesefähigkeit zumindest in Englisch verbessern kann. Petra Schrackmann ist Leiterin der SIKJM-Bilbliothek (Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien) und promoviert in empirischer Kulturwissenschaft.
Sie sagt: «Durch die Beschäftigung mit Fanfiction und die Diskussionen auf den Plattformen lernt man viel über den Aufbau von Geschichten.» Fast jeder habe – vielleicht unbewusst – bereits Fanfiction produziert, meint sie. «Wenn ein Kind Charaktere aus Geschichten ins Spiel einbezieht oder selbst Kasperli-Kassetten aufnimmt, ist das Fanfiction. Diejenigen, die Texte schreiben, befassen sich aber noch intensiver mit der Materie.»
Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt
Auch die Winterthurer Journalismus-Studentin Sarina Dünnenberger publiziert auf den Plattformen wattpad.com und archiveofourown.org. Bei einem Kaffee erzählt die 22-Jährige von ihrer Leidenschaft. «Ich habe schon mit acht Jahren Fanfiction geschrieben. Erst nur für mich und dann öffentlich.»
Sarina Dünnenberger geniesst die darin erlaubte Kreativität und Freiheit. «Es eignet sich auch, um das Schreiben zu üben und Selbstvertrauen in Bezug auf den eigenen Stil zu entwickeln.» Sie habe als Teenager intensive Fanphasen gehabt: «Zuerst war es die deutsche TV-Serie ‹Das Haus Anubis›, dann ‹Soy Luna› und schliesslich ‹Harry Potter›. Da bin ich dann komplett eskaliert.»
Die sieben Bücher und acht Filme hätten ihr nicht genügt. «Deshalb habe ich die fehlenden Szenarien selbst ergänzt.» Die Zeilen am Anfang dieses Textes stammen aus einer Geschichte, die Sarina Dünnenberger verfasst und als Buch binden lassen hat.
Romantik zwischen Figuren, die im Original kein Paar sind, ist ein häufiges Thema. Viele Paare sind queer, so darf Draco Malfoy in einigen Geschichten neben Hermine auch mit seinem Erzfeind Harry Potter anbändeln. Oft werden Randcharaktere zur Hauptfigur. «Klar gehört die Harry-Potter-Welt juristisch J. K. Rowling», sagt Dünnenberger. «Aber wer Fanfiction liest, merkt: Eigentlich gehört sie uns allen. Das ist die Power von Fanfiction.»
Die Mehrheit der Fanfiction wird von Frauen geschrieben. Die US-Kulturwissenschafterin Camille Bacon-Smith vermutet, dass der Kanon vieler Geschichten die weiblichen Bedürfnisse zu wenig beachte. Deshalb würden die weiblichen Fans den fehlenden Inhalt einfach selbst schreiben.
Die Fanficton-Plattformen sind tendenziell positive, ermutigende Orte. Man muss eine Weile suchen, um einen negativen Kommentar zu finden. Regeln gibt es nur wenige. «Es gibt den stehenden Begriff ‹Out of Character›», sagt Sarina Dünnenberger. «Er wird verwendet, wenn eine Figur sehr untypisch handelt. Ich versuche, das zu vermeiden. Aber am Ende gilt: Wenn es dir nicht gefällt, dann liest du eben nicht weiter.»
Es gehöre sich zudem, den eigenen Text mit sogenannten Triggerwarnungen zu versehen, wenn darin Sex oder Gewalt vorkommen. «Es lesen auch viele Kinder Fanfiction. Bei Büchern gibt es Altersempfehlungen. Auf den Onlineplattformen können Triggerwarnungen zumindest ungewollte Konfrontationen vermeiden.»
Annäherung an den Literaturbetrieb
Trotz der Gratis-Kultur spielt so manche Fanfiction am Ende doch Geld ein. Die verfilmte Buchreihe «Fifty Shades of Grey» von Erika Leonard alias E. L. James etwa beruht auf einer Fanfiction der «Twilight»-Welt. Als die Geschichte auf Resonanz stiess, entfernte die Autorin alle «Twilight»-Elemente, um keine Urheberrechte zu verletzen. Andere lesen ihre Texte ein und veröffentlichen sie auf Portalen. So etwa Leon Stiehl in seinem Podcast «Geschichten aus dem Eberkopf».
Nicht wenige schreiben irgendwann ein eigenes Buch. Auch Sarina Dünnenberger arbeitet mittlerweile an einem Roman mit eigenen Charakteren. Einen Verlag hat sie noch nicht. Aber so viel verrät sie: «Es ist eine dystopische Vampirgeschichte.»
Fanfiction-Portale
www.fanfiktion.de
www.wattpad.com
www.archiveofourown.org
Podcast
Geschichten aus dem Eberkopf
In der Bar «Eberkopf» in Hogsmeade treffen sich diverse Harry-Potter-Charaktere und erzählen sich Geschichten.
www.mooentertainment.de/eberkopf
Diverse Podcastportale
Magazin
Danke (erhältlich im März Verlag)