Am Anfang steht ein Bühnenbild von Bert Neumann. Eine kleine Stadt, Häuser, wie sie in Zürich stehen, im Hintergrund der ferne Planet Erde. Darum herum hat der deutsche Regisseur René Pollesch seine Texte gebaut: Ein assoziativer Gedankenstrom, ein Kaleidoskop aus philosophischen Traktaten und filmischen Einsprengseln. Eine ungewöhnliche Vorgehensweise – aber nach konventionellem Plan verläuft bei Pollesch bekanntlich nichts.
Freies Spiel
Davon können seine Schauspieler ein Lied singen. Feste Rollen, Dialoge oder gar eine Handlung existieren nicht. Zu den Proben bringt Pollesch seine Textvorschläge mit, diese werden in der Runde ausgiebig diskutiert und auf der Bühne ausprobiert. Die Schauspieler Carolin Conrad (von der Zürcher Aufführung «Calvinismus Klein» bereits Pollesch-erprobt), Franz Beil und Lilith Stangenberg können sich mit eigenem Material einbringen, selbst wählen, was und wie es gesagt werden soll. «Sie übernehmen Verantwortung, lassen sich nicht versklaven – aus dem freien Spiel generieren wir die Inszenierung», sagt Pollesch nach einem langen Probentag im Schiffbau.
Die Schauspieler selbst geben vor der Aufführung keine Auskünfte über das Stück. Sie sehe sich dazu ausserstande, lässt etwa Lilith Stangenberg ausrichten. Denn bis zur Premiere kann sich noch vieles ändern, alles wieder umgekrempelt werden, sodass jede Aussage veraltet ist. Pollesch will fürs Hier und Jetzt spielen, wie er sagt. Der endgültige Text steht erst am Tag der Uraufführung. Nach den Aufführungen herrscht ein striktes Nachspielverbot. Ein neuer Text, ein anderes Stück entsteht.
Der Titel «Fahrende Frauen», den Pollesch seinem Stück in Zürich gegeben hat, ist im Sinne von «lenkenden Frauen», «Frauen, die an der Macht sind oder etwas zu sagen haben» zu verstehen. Die Gender-Frage steht bei Polleschs Stücken oft im Zentrum als ein lustvolles Spiel mit den Geschlechtern, spezifischen Mustern und Denkweisen. «Wir arbeiten gegen die Zementierung von Geschlechterrollen», führt der Regisseur aus.
Weder Gier noch Rache
«Fahrende Frauen» kreist nebst der Frauen- und Künstlerrepräsentation um weitere Themen wie Kreativität. «Ich bin kein Liebhaber von Themen, die seit Jahrhunderten den Menschen zugeschrieben werden: Krieg und Frieden, Schuld und Sühne, Gier und Rache, Liebe und Tod. Das sind scheinvereinigende Bezeichnungen. Ein Begriff wie Kreativität ist universeller: Kreativität betrifft heutzutage nicht mehr nur Künstler, sondern ist ein Anspruch, der an jeden in der Gesellschaft gestellt wird», ist er überzeugt. Pollesch dekonstruiert vermeintlich feststehende Begriffe, seine Stücke setzt er aus verschiedenen Kontexten zusammen: Der Ernst-Lubitsch-Film «Serenade zu dritt» oder Philosophen wie Robert Pfaller und Judith Butler kommen etwa im aktuellen Stück zu Wort.
Als abstrakt will Pollesch seine Theaterarbeit aber nicht verstanden wissen: «Wir machen konkretes Theater, das alltagstauglich ist, und wir suchen die Kommunikation mit dem Publikum.» Was am 14. Mai auf der Bühne passieren wird, ist derzeit noch offen. Sicher ist: Die Schauspieler werden sich wie riesenhafte Gestalten vor der Kulisse aus kleinen Häusern bewegen – ohne Rückzugsmöglichkeiten, auf sich selbst und den Text zurückgeworfen.