An der Küste von Madagaskar steht die Künstlerin Tacita Dean, die 16-mm-Kamera auf den Horizont gerichtet, und wartet. Sie hofft, jenen sagenumwobenen grünen Streifen auf Zelluloid zu bannen, der nur in klaren Luft- und Lichtverhältnissen zu sehen ist. Kurz blinkt er auf und ist wieder verschwunden: eine so flüchtige Erscheinung, dass die Unsicherheit bleibt, ob man ihn tatsächlich gesehen hat. Der grüne Streifen ist eine Projektionsfläche, ein Bild für unsere Sehnsüchte. In dieser Bedeutungsdimension kann er eine längere Referenzgeschichte vorweisen, unter anderem mit Jules Vernes Roman «Le Rayon Vert» oder Eric Rohmers gleichnamigem Film.
Was Tacita Dean mit ihrem heute ikonischen Werk «The Green Ray» von 2001, das gerade mal zwei Minuten dauert, verhandelt, zielt in den Kern dessen, was Kunst sein kann: ein Spiegel unserer Wünsche und Ängste, ein Raum der Möglichkeiten, Veränderungen, Hoffnungen.
Film lässt sich gerne von Kunst inspirieren
Der Film kann die Bewegungen in der realen Welt kopiergenau festhalten – zumindest vermittelt er diese Illusion. Und er ist das Medium, mit dem die Fragilität des magischen Moments vorgeführt wird. Das lenkt den Blick auf die produktive Schnittstelle zwischen Kunst und Film. Eine Schnittstelle, an der Kunstschaffende auf äusserst kreative Weise schon seit Beginn der Filmgeschichte arbeiten, vor allem aber seit Erfindung des Videoformats und der digitalen Techniken. Das Ausloten der technischen Möglichkeiten und Grenzen der Machbarkeit auf diesem hybriden Feld eröffnet neue Dimensionen des Sehens – und reflektiert zugleich die Bedingungen des Sehens und der Erkenntnis.
Film lässt sich gerne von Kunst inspirieren: Hitchcock holte Salvador Dalí für «Spellbound» (1945), und man denke an Werke von Luis Buñuel, Jean Cocteau, Ingmar Bergman, David Lynch und vielen anderen. Die Surrealisten, die den Traum für wesentlicher als die Wirklichkeit betrachteten, haben den experimentellen Umgang mit den technischen und erzählerischen Parametern des Films massgeblich beeinflusst. Vier Jahrzehnte später war es die Nouvelle Vague, die gesellschafts- und konventionskritisch traditionelle Erzählweisen aufbrach. Jean-Luc Godards Werk dieser Zeit ist eines der bekanntesten Beispiele: Er hat die konventionelle filmische Syntax unterlaufen, mit Ton, Farbe oder Sprache experimentiert, um die Produktionsbedingungen dieser Kunst herauszustellen und im Film über Film nachzudenken.
Streitbare Pioniere in neuer Kunstbewegung
Die Selbstreferenzialität, die Brüche mit Erzählkontinuitäten und Korsetten des kommerziellen Kinos, der Einsatz von Zeitraffer, Slow oder Reverse Motion, das Spiel mit Bewegungen, Texturen und Formkompositionen, die Imperfektionen von Material und Entwicklungstechniken: All das erkundeten unter anderem auch Agnès Varda, Mauricio Kagel, Hartmut Bitomsky, Chris Marker, Stan Brakhage oder Harun Farocki in ihren Arbeiten, die dem hybriden Raum zwischen Kunst und Film immer mehr Eigenständigkeit zuwachsen liessen. Auffallend ist, dass die streitbaren Pioniere dieser neuen Kunstbewegung oftmals künstlerische Mehrfachbegabungen besassen und das Medium Film aus verschiedenen Perspektiven durchleuchteten. So war es etwa der Komponist Nam June Paik, der zu einem wichtigen Impulsgeber für die neue Medienkunst wurde.
Social Media als Teil des Interaktionsraums
Die 1980er-Jahre brachten die Videotechnik und mit ihr in den 1990er-Jahren einen Schub der Demokratisierung in Bezug auf die Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit des Arbeitsma-terials. Es entstanden neue technische Möglichkeiten, die Künstlerinnen und Künstler wie Pipilotti Rist, Steve McQueen, Annelies Strba, Bill Viola, Roman Signer und eben auch Tacita Dean in ihrer künstlerischen Arbeit ausloten. Eine weitere, immense Auswirkung hat die Digitalisierung, die unter anderem ermöglicht, dass Mobiltelefone halbe Fernsehstudios beherbergen: eine hochauflösende Kamera, Schnitt-Software und Vorführgerät im noch vor kurzem undenkbaren Kleinformat.
Mit den zahlreichen Überschneidungen der Kunstfelder und den neuen Formen hat sich diese Szene auch mehr und mehr in den Kunstkontext hineinbewegt, in Museen und Galerien. Oder als künstlerische Intervention in den öffentlichen Raum. Heute öffnen sich Filmfestivals, die bisher nur Filme in Kinosälen vorgeführt haben, immer mehr dem sogenannten Expanded Cinema.
Wie sich die Wahrnehmung dieser Kunst verändert, führt der mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnete Film «The Square» (2017) von Ruben Östlund in anschaulicher, vergnüglicher, aber auch bestürzender Weise vor. Filmi-sche Interventionen und Vi-deoinstallationen werden nicht mehr auf lineare Weise im fokussierten Dunkel von Kinosälen rezipiert, sondern von einem sich bewegenden und auf das Kunstwerk reagierenden Publikum. Auch Social Media ist mittlerweile Teil dieses Interaktionsraums.
Der Illusion entgegenhalten
Die Allgegenwart der Bilder erzeugten die Vorstellung, dass nichts mehr unsichtbar bleibt. Künstlerinnen wie Tacita Dean halten dieser Illusion die kreative Arbeit mit «veralteten» Techniken wie Super 8, 16 mm oder Videokassetten entgegen. Der «grüne Streifen», den sie damit evozieren, erinnert uns an unsere Blindheit, die notwendigen Momente der Originalität, die essenzielle Konfrontation mit dem Unbekannten.
Videoex Festival 2021
Das 23. Internationale Experimentalfilm & Video Festival in Zürich lässt die Geschichte der experimentellen Filmkunst erleben: Neben dem internationalen und Schweizer Wettbewerb werden experimentelle Werke aus der Filmgeschichte Spaniens von Buñuel und Dalí über Val del Omar bis heute sowie Werke von Tacita Dean, Korakrit Arunanondchai und Aura Satz gezeigt. Aus der Schweiz stehen Max Philipp Schmid und Jeannette Muñoz im Fokus.
Fr, 1.10.–So, 10.10.
Kunstraum Walcheturm u.a. Zürich
www.videoex.ch