Eleusis heikle Mission
Prüfend blickte Petrus auf die Gruppe der noch nicht sehr geläuterten Engel. Sie hatten eben das dritte Lehrjahr begonnen, und es schien ihm, sie seien immer noch etwas einfältig und sehr, sehr irdisch. Ob es wohl gutgehen konnte, wenn er einen dieser noch nicht fertiggebackenen Engel für eine heikle Mission auswählte? Würden sie schon verstehen, dass es auf Erden bestimmte Orte gibt, die dem himmlischen Management besonders lieb und teuer sind? Von denen eine ganz eigene Kraft ausgeht?
«Also, ihr Engel im dritten Lehrjahr, hört her. Einen von euch erwartet bei den Menschen eine etwas knifflige Aufgabe. Und zwar in Waldsiedel. Waldsiedel ist vielleicht ein etwas unscheinbarer Ort, aber er ist etwas ganz Besonderes. Am Anfang, vor langer Zeit, hat dort ein Einsiedler gehaust, und später wurde das Kloster gebaut, mit seiner berühmten schwarzen Madonna. Nun ist der Bruder, der im Dienst der Madonna steht, bei der Aufgabe, die Hohe Frau für die Ostermesse einzukleiden, von der Leiter gestürzt. Es wird Wochen dauern, bis er sein Amt wieder verrichten kann. Nun wird ein Stellvertreter gesucht …»
Noch bevor Petrus zu Ende reden konnte, streckte Eleusius seinen engelischen, schon leicht vergoldeten Zeigefinger hoch.
«Du, Eleusius? Wirklich? Äh, bist du sicher?», fragte Petrus etwas erschrocken.
«Warum denn nicht?» Ein bisschen gekränkt strich sich Eleusius eine blonde Locke aus der Stirn.
«Nun ja, Eleusius, warum denn nicht …, aber die Vergnügungen, die du kürzlich bei deinem Erdurlaub gesucht hast, wird es dort nicht geben! Keine Fahrten mit dem Aufzug in Wolkenkratzern! Nicht einmal Jakobsleitern. Ausserdem wirst du dort Mönche antreffen, keine jungen Damen.»
Eleusius schwieg. Auch Petrus schwieg und forschte eine Weile im hübschen und, wie ihm schien, ein bisschen leichtsinnigen Gesicht des jungen Engels. Da meldete sich, in einer Frequenz, die einzig für den Torwächter hörbar ist, eine Stimme von oben: «Petrus, machs kurz. Schick ihn!»
Petrus stutzte. War das nicht gerade eine weibliche Stimme gewesen?
«Na dann, meinetwegen», brummte er. Und er dachte bei sich: Es gäbe eigentlich zuverlässigere Kandidaten für diese heikle Aufgabe. Wenigstens wird man Eleusius in Waldsiedel für einen gewöhnlichen jungen Mann halten, viel Engelisches ist an ihm wahrhaftig noch nicht zu bemerken!
Eleusius aber spürte ein Zittern in seinen Flügelspitzen: Es war die Vorfreude auf den Erdenbesuch.
Noch am selben Abend ging es erdwärts. Kleine Blitzengel auf den Regenwolken wiesen die Richtung: Dort drüben der von Hügeln eingeklemmte schmale See mit der grossen Stadt am unteren Ufer, in der Ferne, immer noch schneebedeckt, die Alpen, und schliesslich, auf der Höhe der Hügel, hinter dem finsteren Wald, die Türme des Klosters, das die Ehre hat, eine der schwarzen Madonnen zu beherbergen.
Während des Sinkflugs, kurz vor der Landung, rauschte ein Platzregen nieder. Eleusius troff vor Nässe, als er den Glockenstrang der Klosterpforte zog.
«Launischer April», schimpfte der Pförtner und öffnete das Tor gerade nur so weit, dass er den nassen Besucher rasch ins Innere ziehen konnte. «Willkommen, Bruder! Wir freuen uns sehr über Eure Hilfe!» Dem Pförtner war gemeldet worden, dass sich ein Substitut für den verletzten Bruder Gregor melden würde.
Auch der Verwalter, der aus seinem Büro herbeieilte, zeigte sich erfreut. «Ah! Der neue Garderobier! Oder: der neue Kammerdiener der Jungfrau!», erlaubte er sich zu scherzen. Über die Herkunft der Aushilfe zerbrach er sich nicht den Kopf. Er hielt ihn für einen der jungen Mönche aus der Filiale drüben in den österreichischen Alpen. Im Gegensatz zu Waldsiedel hatten sie dort keine Nachwuchssorgen, und schon in manchem Notfall hatte das Bruderkloster der alternden Belegschaft der Waldsiedel-Mönche ausgeholfen.
Es stehe für Eleusius im Refektorium eine kleine Mahlzeit bereit, sagte der Verwalter, denn für das neue Amt müsse er sich stärken! Die Jungfrau einzukleiden, mit den 294 schweren Roben, nach den Farben des Kirchenjahrs geordnet, sei keine leichte Arbeit! Die Gönner wählten früher kostbare Stoffe für ihre Kleiderschenkungen und vergassen auch das Kind nicht. Die Brokatfräckchen des himmlischen Knaben muss man vorsichtig überziehen, besonders morgens in der Früh, wenn die Finger starr sind von der Kälte! Nun, er werde es bald lernen, schon morgen müsse die Madonna neu eingekleidet werden. Nach dem Essen werde der Vorvorgänger des Madonnenamtes den Neuling in seine Aufgaben einweihen.
Darauf war Eleusius gespannt.
Am Refektoriumstisch schöpfte ihm einer der Mönche die erkaltete Suppe in den Teller, eine eisgraue, pelzige Flüssigkeit, in der Brotschollen dümpelten. Sein Unbehagen darüber, die Brühe löffeln zu müssen, vertrieb Eleusius durch ein Gespräch mit dem Tischnachbarn, einem ziemlich dickleibigen Mönch, dem üppige, schwarzgelockte Haare unter der Kappe hervorquollen. Er gab sich als Bruder Michael und als Bücherwurm zu erkennen. Seit rund zwölf Jahren walte er hier als Bibliothekar.
«Die Klosterbibliothek soll berühmt sein», sagte Eleusius. «Aber zum Lesen komme ich hier wohl nicht. Ich bin die Aushilfe für den verunglückten Bruder Gregor und das Madonnenamt!»
«Ach, wirklich?» Der Büchernarr rückte näher. Er musterte Eleusius durch dicke Brillengläser. «Na, dann wünsch ich Energie und Durchhaltewillen!»
Eleusius sah ihn erstaunt an. «Ist es denn so schwer, die Madonna anzuziehen?»
Der Bibliothekar zog die dunklen Brauen hoch. «Seid Euch bewusst, fremder Bruder: Es ist eine schwarze Madonna!»
«Ja, ja. Und?»
«Sie ist kapriziös, wie viele Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts. Ihr Vorgänger, der tüchtige Bruder Gregor …»
«… ist doch von der Leiter gestürzt?»
«Ja, eben.»
«Kann doch wohl jedem passieren.»
«Glaubt Ihr? Mag sein, aber schon der Vorvorgänger …»
«… ist ebenfalls gestürzt?»
«Ach nein … Wisst Ihr, ich rede zu viel. Gleich wird Euch ja der alte Kustos in Euer Amt einweihen – passt auf, dass Ihr ihn nicht verpasst!»
Eveline Hasler
Die 1933 in Glarus geborene Autorin studierte Psychologie und Geschichte in Freiburg und Paris; sie war einige Zeit als Lehrerin tätig. Hasler schreibt vor allem historische Romane, aber auch Lyrik, Kinderbücher, Kolumnen, Reportagen sowie Radio- und Zeitschriftenbeiträge. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet und in zwölf Sprachen übersetzt. Am 24.9. erscheint ihre neue Erzählung «Der Engel und das schwarze Herz». Eveline Hasler lebt im Tessin.