Esther Ernst kennt Burgdorf nicht. Doch sie führt an diesem Freitagmittag mit der intuitiven Zielstrebigkeit einer Stadtwanderin dorthin, wo es etwas zu sehen gibt. In der Altstadt hat jemand «Coca Cola» auf den Verputz über einer Parkbank gesprayt. «Wie finden Sie das Coca-Cola-Bänkli?» Die Künstlerin fragt mit einem verschmitzten Lächeln.
Ja, man könnte sich diese Bänkli-Szenerie in einer ihrer gezeichneten Karten vorstellen. Ihre Pläne von Mürren oder Frankfurt, ihre tagebuchartigen «Corona Nachbilder» und weitere Arbeiten sind aktuell im Museum Franz Gertsch zu sehen. Eben ging der Presserundgang zu Ende, und jetzt flaniert die Künstlerin durch Burgdorf. Es geht immer der Nase nach – in der Stadt und im Gespräch über Kartografie.
Halb Plan, halb Wimmelbild
Ernst sagt, Karten faszinierten sie, weil sie die Welt ins Zweidimensionale übersetzen würden. Und weil sie mehr als Orientierung bieten können. «Auf einer Karte kann ich einen Ort erzählen, indem ich meine Erfahrungen und Empfindungen einfliessen lasse.» Genau dieser persönliche Zugang macht die Arbeiten dieser Künstlerin aus. Die Karten der Landestopografie mögen präzise sein, die von Esther Ernst machen Spass.
Halb Plan, halb Wimmelbild, sind sie gespickt mit detaillierten Gebäudeskizzen, Strassenverläufen und Gebirgszügen. Aber eben auch mit kindlichen Zeichnungen in Wachskreide. In der Legende schimmert immer wieder ihr Humor durch. In welchem Architektur-Guide findet man schon eine «Wohnhübschheit»? Mittlerweile im Ortszentrum angelangt, erzählt die Künstlerin, wie sie ihre kartografischen Erkundungen vorbereitet. Und wie sie zeichnet. Manches kommt noch während der Spaziergänge ungefiltert aufs Papier.
Anderes später im Atelier, wenn immer möglich aus dem Gedächtnis. Die Zeichenstile setzt sie wie Erzählstimmen ein. «Den Bleistift mit harter Mine verwende ich, um sachlich und präzise zu zeichnen. Wenn ich aber am Erinnern scheitere, greife ich zum dickeren Wachsstift – dann wird auch meine Zeichnung brüchig.»
Eine Beziehung zur Stadt aufbauen
Und wie würde eine Karte von Burgdorf aussehen? Ernst mustert ein Einkaufszentrum aus den 1980ern. Die Materialen dieses Gebäudes kämen wohl vor, sagt die Zeichnerin, sicherlich auch die Lage von Burgdorf im Nest zwischen den Hügeln. Aber zuerst müsste Burgdorf noch mehr zu ihrem Gegenüber werden. «Meist gehe ich eine richtige Beziehung mit einem Ort ein – mit Trennungsschmerz und allem.»
Etwas später, beim Becherkaffee auf Gleis 1 am Bahnhof. Ein Güterzug wird rangiert, mehrmals rollt eine Lokomotive vorbei, übertönt das Gespräch. Vielleicht würde es ja die Lok auf eine Burgdorf-Karte von Esther Ernst schaffen. Als Farbstiftzeichnung und mit den Altersspuren im roten Lack. Und in der Legende würde so etwas wie «Gesprächsüberrumplerin» stehen.
Esther Ernst – Verzeichnungen
Bis So, 2.6., Museum Franz
Gertsch Burgdorf BE
Esther Ernsts Kulturtipps
Film
Justine Triet: Anatomie eines Falls
«Luege. Dieser Film – und überhaupt alle Filme mit Sandra Hüller – eröffnet Welten.»
Musik
Fuffifufzich: Heartbreakerei (Diggers Factory 2023)
«Lose. Die Sängerin Fuffifufzich habe ich kürzlich live in Basel gesehen – ihre Musik macht sehr viel Spass.»
Buch
Rebecca Solnit: Wanderlust – Eine Geschichte des Gehens (Matthes & Seitz 2019)
«Laufe. Den nächsten Zug nach irgendwohin nehmen und am Bahnhof einem Wanderweg folgen. Und zuvor im Zug Rebecca Solnits Buch lesen.»