Es ist die letzte halbe Stunde. Zwei Gruppen der Compagnie Konzert Theater Bern improvisieren unabhängig voneinander nach einer Szene aus dem unvollendeten Kafka-Roman «Das Schloss». Offensichtlich mit grosser Lust, denn trotz der im Raum greifbaren Konzentration wird viel gelacht. Dann lässt die Chefin Estefania Miranda sich die Sequenzen vortanzen, wählt aus und strukturiert das Bewegungsmaterial in groben Zügen, nicht ohne die jungen Leute bei ihrer Arbeit zu ermutigen. Dies tut sie auf Englisch, der Lingua franca der Tänzer. Mit einem Kugelschreiber zwischen den Fingern wirkt sie wie eine Schauspielregisseurin.
Mit starkem Willen
Als Estefania Miranda vor drei Jahren nach Bern zog, hatten einige Freunde Bedenken, ob es ihr wohl gefallen würde. Denn Miranda ist eine temperamentvolle Chilenin und so ziemlich das Gegenteil von zurückhaltend und harmoniebedacht, wie man es den Bernern gern nachsagt. «Ich empfinde die Leute hier als ausgesprochen offen und direkt», sagt sie aber.
Nach den Vorstellungen liebt sie es, mit den Zuschauern ins Gespräch zu kommen. Die Frau mit dem klangvollen Namen, sie heisst tatsächlich so, ist klein, energisch und im Interview konzentriert – ganz Managerin. Spürbar sind ihr starker Wille und eine straffe Disziplin. Eigenschaften, die Tänzerinnen brauchen, um in ihrer Karriere weiterzukommen. Und Miranda hat vieles erreicht.
Eigene Compagnie
Sie begann früh mit Tanzen, und da sie wusste, dass sie nicht den Weg einer Ballerina einschlagen wollte, musste sie weg von Chile. Miranda bekam ein Stipendium für Edinburgh und wechselte später nach Tilburg in Holland, um zeitgenössischen Tanz zu studieren. Als sie den charismatischen Tänzer Ismael Ivo und sein politisches Tanztheater bei einem Gastspiel-Auftritt sah, war sie hin und weg. Da wollte sie hin.
Noch während ihrer Ausbildung bot ihr Ivo ein Engagement am Deutschen Nationaltheater Weimar an – ihr grösster Wunsch war erfüllt. Nach einer gewissen Zeit wechselte Miranda die Spur und arbeitete, auf der Suche nach neuen Herausforderungen, als Schauspielerin. Danach gründete sie eine eigene Tanzcompagnie und stellte in Weimar ein internationales Tanzfestival auf die Beine, das sie selbst kuratierte.
Ihre Aussprache ist akzentfrei, und wer sie hört, hält sie für eine Deutsche. Wie weit fühlt sie sich als Chilenin? «Meine Heimat ist heute der Tanz», erzählt sie, «ich mag die Internationalität in den Tanzensembles; hier habe ich nie das Gefühl, fremd zu sein.»
Ihre Herkunft hat sie geprägt. Zwei Jahre nach Pinochets Putsch 1973 wurde sie geboren. Sie erinnert sich an Demonstrationen, an Wasserwerfer und Rauchbomben. Ihre Familie engagierte sich gegen die Diktatur. Doch darüber will sie nicht reden; es würde sie zu sehr aufwühlen, sagt sie mit einer Handbewegung und wischt die alten bösen Geister weg.
Wohl auch wegen ihrer frühen Erfahrungen empfindet sie sich als politischen Menschen. «In einer Demokratie zu leben, bedeutet ein Privileg für mich; jedes Flüchtlingsdrama berührt mich tief», sagt sie. In ihrer ersten Spielzeit am Berner Haus wählte sie das Thema «Fremd sein» und reagierte damit auf die anstehende Abstimmung zur Ausschaffungsinitiative.
Umgang mit Macht
Im aktuellen Tanzstück «Das Schloss» dreht sich alles um Macht und wie das Individuum damit umgeht. Ein Mann namens K. kommt in ein Dorf, in dem eine unsichtbare Regierung mit Sitz auf einem Schloss alles zu beherrschen scheint. Deren bürokratische Regeln sind undurchschaubar und diffus. Die Bewohner sind von Angst beherrscht und halten sich gegenseitig in Schach.
«Es ist eine düstere, absurde Geschichte, die aber viel Raum für Humor lässt», erzählt die Choreografin. Die Tänzerinnen und Tänzer kreieren die Figuren von innen heraus; das sei ihr sehr wichtig, sagt Miranda dazu. Bevor diese die ersten Schritte im Studio ausprobierten, müssten sie mit dem Inhalt und den Charakteren vertraut sein. «Form an sich interessiert mich überhaupt nicht.» Jeder Stoff erfordere eine andere Form. Sprache findet sie resistenter gegen Beliebigkeit als gewisse abstrakte Formen im Tanz. Andererseits vermöge dieser wie keine andere Kunstdisziplin Atmosphärisches wiederzugeben und das Unausgesprochene zwischen den Zeilen hervorzuholen.
Eingeschworenes Team
Für «Das Schloss» komponieren die Holländer Jeroen Strijbos & Rob van Rijswijk parallel zur Choreografie die Musik. Das Duo und Miranda sind ein eingeschworenes Team. Die Impulsgeber im Probenprozess aber sind die Tänzer. Sie bestimmen den Atem und Rhythmus. Manchmal probten sie komplett ohne Musik, erzählt die Choreografin. Miranda ist stolz auf ihre kleine Truppe am Haus. Eben hat diese mit dem Stück einer Gastchoreografin einen der Schweizer Tanzpreise gewonnen. Die Ansprüche an die Tänzer sowie die programmatische Bandbreite sind gross. «Unter den Schweizer Stadttheater-Compagnien sind wir wohl die zeitgenössischste», sagt die Direktorin und strahlt.
Das Schloss
Premiere: Sa, 17.10., 19.30 Vidmar 1 Konzert Theater Bern
www.konzerttheaterbern.ch