In der Wissenschaft will jeder der Erste sein. «Den eigenen Namen auf immer mit einem erfolgreichen Gedanken verknüpft zu sehen, kommt einer Art von Unsterblichkeit zu», schreibt Ian McEwan in seinem Aufsatz «The Originality of the Species oder: Wer ist der Erste?». So verbindet heute jedermann die Relativitätstheorie mit Albert Einstein oder die Evolutionstheorie mit Charles Darwin, obwohl ihnen bei ihren Erkenntnissen andere zeitgenössische Forscher hart auf den Fersen waren.
Ein gemeinsames Reservoir von Gefühlen
Ähnlich, aber nicht deckungsgleich verhält es sich mit Autoren, Dichterinnen und Malern. Auch ihnen ist die Urheberschaft wichtig: «Aber sie wissen zuinnerst, dass sie vollkommen auf jene angewiesen sind, die vor ihnen waren.» In beiden Fällen zeige sich unser Gesicht. Diese Gedanken sind im Sammelband «Erkenntnis und Schönheit» enthalten zusammen mit vier anderen Aufsätzen «über Wissenschaft, Literatur und Religion» aus den Jahren 2003 bis 2019. Nach der bissigen Politpersiflage «Die Kakerlake» (2019) über den Brexit fordert McEwan seine Leser nun mit anspruchsvollen Texten heraus, die Abstraktionsvermögen verlangen.
Der 72-jährige Ian McEwan ist von der Universalität des Menschseins überzeugt, die sich in einem «gemeinsamen Reservoir der Gefühle» äussere. Dieses verbinde Menschen jeglicher Herkunft und – wie die Literatur belegt – auch jeder Epoche, zumindest seit der Erfindung der Schrift. Diesem Gedanken stellt McEwan seine Erläuterungen unter dem Titel «Das Ich» gegenüber. Zwar wissen alle, was damit gemeint ist, doch es lässt sich nicht genau definieren, geschweige denn im Hirn exakt lokalisieren. Der Autor zitiert Philosophen, die das Ich als eine «Art Narrativ» halten, «eine sich entfaltende Geschichte, die wir uns erzählen». McEwan ist davon allerdings nicht überzeugt und hält es lieber mit dem US-amerikanischen Schriftsteller Henry James, der «von einem heillosen Durcheinander des Lebens» spricht. Auch diese Einsicht genügt McEwan indes nicht, und er kommt zu einem dialektischen Schluss der beiden Ansätze: «Ein dünner Faden von Kausalität, Konsequenz und Beliebigkeit verbindet uns mit unseren früheren Ichs.»
Einsichten mit Anekdoten gewürzt
Der Autor wäre kein Schriftsteller und schon gar nicht einer der führenden unserer Zeit, würde er solche Einsichten nicht mit Anekdoten würzen. So belegt er den Einzug einer gespaltenen Persönlichkeit in der Literatur mit einem Ehekrach des englischen Chronisten Samuel Pepys im 17. Jahrhundert. Pepys wollte zwar partout nichts von den Vorwürfen seiner Frau wissen, die sie ihm entgegenhielt. Aber seine Tagebuchaufzeichnungen belegen mehr: «Er beweist auch ein genaues Verständnis für ihren Kummer, hegt Mitleid für sie und sieht ein, wie berechtigt ihre Klagen sind.» Denn Pepys fühlte sich so schlecht in dieser Episode, dass ihn McEwan als «einen Wissenschafter seiner selbst bezeichnet». Das kommt einem bekannt vor: Wer hat nicht schon seinen Standpunkt durch alle Böden verteidigt und sich dabei elend gefühlt? So lohnt sich die Lektüre dieses Bands allein schon als Schritt zur Selbsterkenntnis.
Buch
Ian McEwan
Erkenntnis und Schönheit
Aus dem Englischen von Bernhard Robben und Hainer Kober
179 Seiten
(Diogenes 2020)