«Die Lust am Reisen ist mir vergangen, seit ich im Südchinesischen Meer schwimmende Inseln aus Plastik gesehen habe. Wollte man sich am Strand hinsetzen, musste man sich den Platz zuerst freiräumen», schreibt Olga Tokarczuk in ihrem titelgebenden Essay «Übungen im Fremdsein» und wirft zudem die Frage auf: «Kann man sich im Flugzeug bequem zurücklehnen, wenn in der Gegenrichtung Menschen unterwegs sind, die sich in Containern drängen?» Die Antwort liefert sie gleich mit: «Vielleicht sollten wir jetzt einfach einmal zu Hause bleiben, um andere Reisende zu begrüssen.»
Betrachtungen über das Unterwegssein
Zu Hause bleiben: Die polnische Autorin hat es vorgemacht und ihre Leser in ihre literarische Welt geholt. Vor zwei Jahren, als Corona die Welt zum Innehalten zwang, ist sie in ihrer Heimat geblieben und hat die Zeit genutzt, ihr Schaffen zu ordnen. Sie hat Essays, Vorträge sowie die Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises, der ihr 2019 nachträglich verliehen wurde, zusammengestellt. Nun sind diese Texte im Band «Übungen im Fremdsein» auf Deutsch erschienen. Olga Tokarczuks Betrachtungen über das Unterwegssein und Entdecken der eigenen und fremden Welt nehmen darin einen grossen Stellenwert ein.
Die 60-jährige Autorin, die in Warschau Psychologie studiert hat, ist eine hochreflektierte Erzählerin. Dies haben ihre Romane wie «Unrast», «Die Jakobsbücher» oder «Gesang der Fledermäuse» bereits gezeigt. Dies wird auch bei der Lektüre ihres Essaybands deutlich. Unermüdlich versucht sie, die Welt in ihrer Komplexität zu erfassen und ihre Erkenntnisse in Geschichten oder Worte zu packen. Sie hinterfragt alles und setzt sich akribisch mit sich selbst, den Menschen, mit Tieren und der Natur auseinander. Auch die Wirkung des Erzählens wird von ihr gründlich hinterfragt.
Das Buch entpuppt sich als wahre Fundgrube an Erkenntnissen, die sich mit dem Leben und dem Schreiben auseinandersetzen. Die Leser werden Seite für Seite mit Textstellen konfrontiert, die zum Denken anregen – egal, ob es sich um eine literarische Figur, die griechische Mythologie oder eine Kindheitserinnerung handelt. Olga Tokarczuk nimmt kleinste Details wahr, um sie in der Welt so einzuordnen, dass sie zu etwas Grossem werden.
Die Vorstellungskraft fehlt heute
«Früher war die Welt riesig und mit der Vorstellungskraft nicht zu erfassen – jetzt ist nicht einmal mehr Vorstellungskraft vonnöten, denn alles ist zum Greifen nah, so nah wie das Smartphone in unserer Hand», stellt sie in ihren Ausführungen zu einem Holzstich des französischen Astronomen Camille Flammarion fest. Er zeigt einen Pilger, der auf seiner Wanderschaft mit seinem Kopf das Himmelszelt durchstösst. Olga Tokarczuk plädiert dafür, dass «wir neue Landkarten brauchen und den Mut, den Humor von Wanderern, die sich nicht scheuen, den Kopf aus der Sphäre der bisherigen Welt hinauszustrecken, über den Horizont der bisherigen Wörterbücher und Enzyklopädien». Als Leserin ist man vor allem auf eines gespannt: Was sie selbst uns davon erzählt.
Buch
Olga Tokarczuk
Übungen im Fremdsein
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, Lisa Palmes, Lothar Quinkenstein
320 S. (Kampa 2021)