Sie wurde «die letzte Diva» genannt: Montserrat Caballé, die im Oktober 2018 im Alter von 85 Jahren verstorben ist. Eine «Magierin der leisen Töne in hohen Lagen» sei sie gewesen. In Gaetano Donizettis «Anna Bolena» habe sie jene «ungewöhnlich leise Leuchtkraft und Verführungsmacht» entfaltet, die ihrem Belcanto zu eigen gewesen sei. So eindeutig fällt Iso Camartins Urteil in seinem neuen Buch «Mein Herz öffnet sich deiner Stimme» aus, bevor er sich dann dieser Oper, dieser Rolle und zuletzt der Arie «Piangete voi?» zuwendet. Und bevor die Leser zu jenem QR-Code gelangen, mit dessen Hilfe sie Montserrat Caballé hören können.
Perlen abseits der Hauptpfade
Auf diese Weise wird ein Buch, das in kurzen Kapiteln von 50 Arien handelt, zur tönenden Zeitreise nicht nur durch die Musik-, sondern auch durch die Interpretationsgeschichte. Aus grosser Ferne, ein wenig knisternd, aber unmittelbar, kraftvoll, heldenhaft dringt Lauritz Melchiors «Parsifal» zu uns. Eindringlich nimmt Maria Callas in Alfredo Catalanis «La Wally» Abschied von ihrem Dorf, angstvoll treibt Peter Pears in Benjamin Brittens «Peter Grimes» seinem Ende entgegen. Nur begleitet von Sologeige und Continuo, berührt Nuria Rials jugendlich frische und klare Sopranstimme in einer Bach-Kantate. «Zauberhaft schön», lautet das Urteil von Iso Camartin denn auch.
So durchschreiten die Leser die Jahrzehnte auf Schallplatte und CD konservierten Gesangs, während Camartin durch drei Jahrhunderte führt. Angefan-gen 1688 bei Angelo Steffanis «Niobe, Regina di Tebe», endend 1996 mit György Ligetis «Le Grand Macabre». Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt er niemals. Im Gegenteil. Gern wendet er sich Per-len abseits der Hauptpfade zu: Nikolai Rimski-Korsakows «Zarenbraut» oder Maurice Ravels «Shéhérazade», um nur zwei zu nennen.
«Ich liebe Sie, liebe Sie unermesslich»
Dass er sich auskennt, hat der Bündner Kulturwissenschafter schon 2014 in «Opernliebe» bewiesen, einem «Buch für Enthusiasten». Auch jetzt zeigt sich, wie viel er von den Hintergründen jedes Werks versteht. Doch die wesentliche Qualität der Texte, die er ursprünglich für das Onlineportal «Journal21» geschrieben hat, liegt nicht nur in seinen Ausführungen zur Motiv- und Musikgeschichte. Denn berührt werden können wir von Gesang nur, wenn wir unser Herz öffnen. Hören wir zu, dann fällt das ganz leicht. Wenige nur werden die Worte verstehen, die der Bariton Dmitri Hvorostovsky in der Arie «Ya was lyublyu» aus Peter Tschaikowskys «Pique Dame» singt. Und doch macht seine weiche, sich in weiten Bögen scheinbar anstrengungslos emporschwingende Stimme deutlich, worum es geht: «Ich liebe Sie, liebe Sie unermesslich.»
Buch
Iso Camartin
«Mein Herz öffnet sich deiner Stimme»
254 Seiten
(rüffer & rub 2021)