Bernard Mandeville (1670–1733) war Spötter und eleganter Provokateur. Mit einem Lob des Lasters stellte der gebürtige Holländer in seiner «Bienenfabel» 1714 die Welt auf den Kopf. Nicht Tugenden wie Genügsamkeit und Friedfertigkeit seien dem Fortschritt förderlich, erklärte er, sondern Luxus, Verschwendung, Krieg und Ausbeutung. Im Bienenstock des Menschen halten Gier, Egoismus und Eitelkeit das Ganze am Laufen. Bis heute.
Mandevilles Erkenntnisse aus dem 17. Jahrhundert
Der deutsche Historiker und Journalist Philipp Blom hat dem Arzt und Sozialtheoretiker Mandeville 2017 in seinem Buch «Die Welt aus den Angeln» eine prominente Rolle zugewiesen. Mandeville war einer jener Philosophen, die unter dem Eindruck einer tief greifenden Klimaveränderung eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsauffassung begründeten. Was wir als moderne Konsumgesellschaft kennen, nimmt hier seinen Anfang. Deshalb verknüpft Blom auch in seinem aktuellen Buch «Das grosse Welttheater» das 17. mit dem 21. Jahrhundert, die Kleine Eiszeit mit der menschengemachten Klimaerwärmung.
Diese Kleine Eiszeit löst um 1570 eine abrupte Abkühlung des Erdklimas ab, die über mehr als ein Jahrhundert Missernten und vielerlei Not bringt. In jener Krisenzeit schält sich unsere heutige Welt heraus. Es ist eine Welt, in der die Religion immer weniger Macht hat und in der sich vor allem in den Niederlanden im 17. Jahrhundert Philosophie und Wissenschaft emanzipieren – und mit ihnen die Idee unveräusserlicher Menschenrechte. Unter der Regie eines wachsenden Mittelstands entwickelt die Wirtschaft jenen nationenübergreifenden Schwung, den Mandeville damals in ihr erkennt. Mit all den Schattenseiten, die mittlerweile bekannt sind: nicht nur in Form weltweiter Ausbeutung schlecht bezahlter Arbeitskräfte, sondern auch einer erneuten Klimaveränderung, die diesmal allerdings menschengemacht ist.
Fortschritt ist möglich, aber nicht zwingend
Die Frage ist nun: Stecken wir unrettbar fest in jenen Zwängen, die über kurz oder lang dazu führen, dass wir unseren Planeten ruinieren? Die Menschen des späten 16. und 17. Jahrhunderts interpretierten die Kälte zunächst als Strafe Gottes. Als aber weder Gebete noch Prozessionen oder Hexenverfolgungen halfen, kam jene Veränderung der Vorstellungskraft in Gang, die eine tief greifende Umgestaltung der Welt erst ermöglichte. Vergleichbares spielt sich heute ab. Unter Druck steigt die Tendenz, «dass Angst und Aggression wachsen, Identitäten sich verengen» und «längst unwahr gewordene Geschichten erzählt werden», stellt Philipp Blom fest. Von Populisten gern aufgegriffene Verschwörungstheorien sind da nicht weit. Auf der anderen Seite wächst die Anhängerschaft für jene Weltbilder, die den Menschen nicht mehr als Herrn der Erde sehen, sondern als den Bewohner eines Planeten, dessen Lebewesen in symbiotischer Wechselwirkung leben.
«Erst Geschichten machen die Welt lesbar», schreibt Philipp Blom. Solche Geschichten brauchen die Menschen jetzt – und Figuren – wie jenes schwedische Mädchen, das es mit seinem Schulstreik zur Berühmtheit gebracht hat. Fortschritt ist also möglich, zwingend aber ist er nicht. Das weiss Philipp Blom gut, der sich in seinen früheren Büchern auch mit der Zeit vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg befasst hat, in denen Wohlstand und bürgerlicher Fortschritt in die Barbarei kippten.
Buch
Philipp Blom
Das grosse Welttheater – Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs
126 Seiten
(Zsolnay 2020)
Fünf Fragen an Philipp Blom
«Krisenzeiten sind ein künstlerischer Ansporn»
kulturtipp: Werden wir in der Corona-Krise gerade hellsichtiger oder engstirniger?
Philipp Blom: Das kommt darauf an! Sicherlich wird beides passieren. Es gibt jetzt schon Menschen, die in der Krise das notwendige Ende der menschlichen Expansion und der Wachstumsökonomie sehen. Und andere, die meinen, die Krise beweise, wie trist eine Welt ohne Wachstum ist.
Im Schatten blühen mehr und mehr Verschwörungstheorien auf. Warum?
Es geht wohl darum, sich die Welt nach dem eigenen Leseraster erklärbar zu machen und sich dabei vielleicht auch in die Rolle des unschuldigen Opfers zu manövrieren. Diese Position ist so angenehm, dass manche Leute dafür bereit sind zu glauben, dass es gar kein Virus gibt und Bill Gates sich mit George Soros verschworen hat, um uns alle zwangszuimpfen und uns dumm und gefügig zu machen.
Ausserdem gibt es mehr und mehr Widerstand und Protest. Woher kommen sie?
Wo es Wut gibt, gibt es auch Gelegenheiten, sie zu entladen.
Umgekehrt geraten gerade populistische Regierende in Not. Kann das zuversichtlich stimmen?
Ja und nein! Einerseits wird gerade schlechte, amateurhafte und chauvinistische Politik sehr hart abgestraft, aber andererseits ist dies eine Situation, in der die Politik völlig von den Notstandsmassnahmen verdrängt wurde. Schon im Verteilungskampf und im Wiederaufbau aber wird es um politische Machtstrukturen, ideologische Positionen und wirtschaftliche Interessen gehen.
Die Menschheit braucht neue Figuren und neue Geschichten, um in der Klimakrise umsteuern zu können. Ein wichtiger Raum für diese Geschichten ist die Kultur. Kommt sie dieser Aufgabe nach? Oder herrscht da mehr kulinarischer Genuss?
Ach, das ist schwierig. Natürlich kann man von Künstlerinnen und Künstlern jetzt noch nicht erwarten, durchdachte und starke Antworten auf die Krise zu geben, aber die werden kommen. Krisenzeiten sind oft ein künstlerischer Ansporn.