«Eines Morgens löst sich das Bild auf. Die Welt verlässt mich. Ich werde zum Nichts und schwebe im Nirgendwo.» Der vorübergehende Verlust ihres Augenlichts ist für Mely Kiyak Ausgangspunkt ihrer Selbstreflexion. «Frausein» lautet der Titel ihres autobiografischen Textes zwischen Essay und Roman. Damit benennt sie aber nur einen Teil ihrer Suche nach dem «Ich». Denn dieses «Ich» beinhaltet ein schillerndes Mosaik: Das «Ich» als Frau, als Tochter kurdischer Gastarbeiter, als Schriftstellerin, als Sehbeeinträchtigte, als Aufsteigerin, als Liebende, als Einsame – als Mensch.
Anekdoten mit politischer Schlagkraft
In ihrem schmalen, aber gedankenreichen Buch wirft die 1976 geborene Autorin Fragen auf, die weit über das individuelle Befinden hinausreichen. So erzählt sie etwa von den zwiespältigen Erfahrungen, die sie auf ihrem Weg zur Frau und bei der Entdeckung ihrer Weiblichkeit macht. Oder sie erinnert sich an ihre Kindheit in Niedersachsen: etwa an den Amtsrichter, der seiner Putzfrau, Melys Mutter, stets sein Frühstücksbrötchen überliess mit den freundlich gemeinten Worten: «Für Ihre Kinder.» Aus «Respekt vor der Grosszügigkeit und Güte des Amtsrichters» mussten sie und ihr Bruder abends daheim das verhasste Wurstbrötchen verspeisen. Mely Kiyak erzählt diese Erinnerung als witzige Anekdote, die dennoch politische Schlagkraft besitzt: «Wir waren zwar arm. Aber wir hatten genug zu essen. Diesen Widerspruch galt es runterzuschlucken.» Immer wieder wird sie sich an solchen stereotypen Bildern, am Aussenblick auf die Gastarbeiterfamilie, stossen. Ihr Vater etwa, der sie bei all ihren Zielen vorbehaltlos unterstützt, entspricht in keiner Weise dem Klischee des türkischen Patriarchen.
Dennoch wird ihr von daheim mitgegeben: «Schweigen, nicht protestieren.» Man will im Gastland Deutschland nicht auffallen, ausser durch gute Leistungen. Auf der Tochter lastet der Erwartungsdruck, dass sie einmal etwas «Besseres» werden soll. Tatsächlich wird sie ein Studium beginnen, schliesslich am Literaturinstitut in Leipzig aufgenommen. Dem Schweige-Gebot wird sie sich freilich nicht fügen. Sie begehrt auf, äussert sich scharfsinnig und kritisch – heute etwa als politische Kolumnistin bei «Zeit Online» oder für das Berliner Gorki Theater.
In «Frausein» beschreibt die Journalistin, Dramatikerin und Autorin diesen Weg dahin, der geprägt ist von Unsicherheiten und der Erfahrung der Ausgrenzung. Selbst am Literaturinstitut bewegt sie sich an der Peripherie und wird immer wieder auf ihre Rolle als Autorin mit Migrationshintergrund zurückgeworfen.
Zufriedensein mit sich selbst
Von diesen Erfahrungen erzählt die Autorin mit Klugheit, Humor und Ehrlichkeit. Der Weg hin zum Selbst wird ein Befreiungsschlag von allen Erwartungen. Die Aussenmeinungen, was ein gelungenes Leben sein soll, will sie über Bord werfen. Heirat, Kinder, das Leben im Kollektiv sagen ihr nicht zu, das Schreiben soll im Zentrum stehen, stellt sie fest. «Auf die ehrlich an mich selbst gestellte Frage, womit ich am zufriedensten und ruhigsten war, lautet die Antwort: mit mir. Einfach nur mit mir.» Diese Erkenntnis gibt ihr die Stärke, die zu sein, die sie sein will.
Buch
Mely Kiyak
Frausein
128 Seiten
(Hanser 2020)