Die Frage nach dem Zweck der Kunst ist so alt wie die Kunst selbst. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Theatermacher Milo Rau dieser Frage ein Buch widmet. Der Regisseur ist bekannt dafür, dass er grosse Themen aufgreift und sie mit realpolitischem Bezug neu verhandelt. Bei Rau verwischen die Grenzen der Bühne, seine Stücke verwachsen mit der echten Welt.

So entsteht als Teil des Inszenierungsprozesses schon mal eine faire Tomatenplantage in Italien oder eine öffentliche Auseinandersetzung über die Sexualität von Darstellerinnen und Darstellern mit Beeinträchtigung.

«Raus aus den Safe Spaces!»

In seinem neuen radikalen Essay «Die Rückeroberung der Zukunft» liefert Rau nicht nur ein Manifest für seine Arbeitsweise, sondern auch eine Handlungsanleitung, wie Theaterhäuser sich vor der «totalen Gegenwart» schützen können. Diese «totale Gegenwart» ist Raus Hauptgegner. Denn in einer solchen sind die Türen zur Vergangenheit und zur Zukunft verschlossen.

Und Milo Rau will vor allem die Tür zur Zukunft aufbrechen. Zu Beginn beschreibt er die «fünf Reiter der Posthistoire». Diese seien die «Kampftruppe der totalen Gegenwart». Hier kriegt etwa der moralische Reiter sein Fett ab. Denn wenn Machtkritik moralisiert wird, löst sie sich laut Rau in alles und nichts auf. Die Folge davon sei, dass gar nichts mehr getan werde, weil unter der totalen Reinheit alles falsch sei. Rau ruft dem Reiter des Moralismus zu:

«Raus aus den Safe Spaces! Keine Angst vor Widersprüchen und Fragwürdigkeiten.» In Raus Sätzen drückt ein ungeduldiger Weltschmerz durch: Er erträgt es kaum, dass 2023 noch globale Ungerechtigkeiten existieren. Immer wieder springt der Funke seines engagierten Aktivismus über. Doch genauso oft nagen sich Zweifel in die Lektüre, ob Raus Ansatz auf alle Theaterhäuser übertragen werden kann. Als Kontrast zu den konservativen Reitern stellt Rau fünf «Seinsweisen für utopisches Denken» vor. So propagiert er etwa die extreme persönliche Erfahrung, die unweigerlich zu Engagement führe.

Das Publikum leiden lassen

Als Beispiel nennt er den Aktivisten, Studenten und Plantagenarbeiter Yvan Sagnet, der den Jesus im Film «Das neue Evangelium» spielte. Sagnet rief den ersten Generalstreik der Plantagenarbeit aus, nachdem er gesehen hatte, wie ein tomatenpflückender Kollege nach zwölf Stunden Arbeit vor Hitze starb. Rau wirbt dafür, solche Erfahrungen und die Menschen, die sie gemacht haben, in eine Stückerarbeitung einzubeziehen.

In der Umsetzung will er statt der Figuren aber das Publikum leiden lassen. Raus Essay ist ein glühendes Manifest für mutige, politische Kunst, deren Ergebnis nicht verschwindet, wenn der Vorhang fällt. Die Argumentation, die manchmal etwas nach Soziologie-Seminar klingt, wird dank praktischen Beispielen verständlich. Das Buch richtet sich thematisch aber eher an Theaterschaffende als an das Publikum. Und so bleibt fraglich, ob Rau die Grenzen der Kunstumgebung, die er so sehr durchbrechen will, mit diesem Buch überwinden kann.

Buch
Milo Rau
Die Rückeroberung der Zukunft
174 Seiten
(Rowohlt 2023)