Die Einsamkeit ist das grosse Thema im neusten Werk der französisch-marokkanischen Schriftstellerin. Isolation im besten Sinne allerdings, denn sie bedeutet für Leïla Slimani den Rückzug ins Schreiben. «Ich lebe hinter der Bühne. Der Rückzug erscheint mir wie eine notwendige Bedingung, damit das Leben eintreten kann. (...) Ein ‹Es war einmal›. In diesen geschlossenen Raum flüchte ich mich.» Das Schreiben ist für sie der grenzenlose Freiraum, in dem sie nicht mehr über Geschlecht, soziale Schicht, Religion oder Nationalität definiert wird, in dem sie sich selbst und die Welt neu erfinden kann.
Mit dem «Aroma der Freiheit» in der Nase
Und diese Vorliebe für das Alleinsein ist auch der Grund, warum sie den Vorschlag ihrer Lektorin sofort angenommen hat und sich eine Nacht im Museum Punta della Dogana in Venedig hat einschliessen lassen. Nicht die berühmten Kunstwerke überzeugen sie, sondern das Ungestörtsein, «dass niemand zu mir gelangen kann und das Draussen für mich unerreichbar ist». Aus dieser Idee ist «Der Duft der Blumen bei Nacht» entstanden: eine Reflexion über die im Museum versammelte zeitgenössische Kunst, die sie teilweise schlicht ratlos macht, teilweise aber auch berührt. Etwa Hicham Berradas Installation mit einem Nachtjasmin, dessen Blüten sich nur nachts öffnen und einen intensiven Geruch verströmen. Der Strauch, auch «arabischer Moschus» genannt, kommt häufig in Marokko vor und versetzt Leïla Slimani zurück in ihre Jugend mit heimlich gerauchten Zigaretten und verbotenen Festen – stets mit dem «Aroma der Freiheit» in der Nase.
Viel Platz für persönliche Reflexion
Und so nehmen die persönlichen Erinnerungen viel mehr Platz im Buch ein als die Kunstbetrachtungen. In dieser Nacht im Museum schweift die Autorin zurück zu ihrem Leben in Rabat, das für Mädchen im beschränkten häuslichen Raum stattfinden sollte, zu den Fluchtfantasien und zum gegenwärtigen Alltag in Paris zwischen den beiden Kulturen, zwischen Kunst und Familie. Auch ihr Vater, der unverschuldet in einen Finanzskandal verwickelt war, taucht in dieser Nacht im Museum vor ihrem inneren Auge auf und lädt zur Reflexion über ihre ambivalente Beziehung zu ihm.
«Der Duft der Blumen bei Nacht» gibt interessante Einblicke in das Leben der preisgekrönten Bestsellerautorin und Aktivistin, die von Präsident Macron zur Frankofonie-Beauftragten ernannt wurde. In ihren öffentlichen Auftritten setzt sie sich für Feminismus ein und kämpft gegen Fundamentalismus. Diese Themen klingen zwar auch im neuen Buch an, vor allem kreist sie hier aber um die Fragen des Schreibens und des Rückzugs.
Mit ihren Romanen eckt sie im besten Sinne an
Den Sog, der ihren Büchern sonst so eigen ist, vermag sie im Essay nicht zu entwickeln. Jenen, die Slimanis Werk noch nicht kennen, seien darum ihre Romane empfohlen. In Werken wie «Dann schlaf auch du» über Kindsmord oder «All das zu verlieren» über Sexsucht eckt sie im besten Sinne an, bricht gängige Frauenbilder auf und schildert in prägnanter Sprache weibliche Abgründe. Und hält ganz nebenbei der französischen Zweiklassengesellschaft den Spiegel vor.
Buch
Leïla Slimani
Der Duft der Blumen bei Nacht
Aus dem Franz. von Amelie Thoma
160 Seiten
(Luchterhand 2022)