Essay-Band: Weltsicht einer Avantgardistin
Von der Pariser Kommune bis zur Gleichstellung: Die Kulturkrikerin Ré Soupault fasste in der Nachkriegszeit Gedanken über die abendländische Geisteswelt in Radio-Essays zusammen, die nun in einem Band erscheinen.
Inhalt
Kulturtipp 12/2022
Rolf Hürzeler
Diese Schreibtechnik ist für jeden Journalisten ein Graus: «Das Bewusstsein wird ausgeschaltet, und die schreibende Hand wird gleichsam von einer unsichtbaren Macht gelenkt, das Unbewusste gelangt an die Oberfläche.» So will der Franzose Isidore Lucien Ducasse – oder Comte de Lautréamont, wie er sich nannte – seine heute weitgehend vergessenen «Gesänge des Maldoror» geschrieben haben. Sein Held und Antigott Maldoror war für i...
Diese Schreibtechnik ist für jeden Journalisten ein Graus: «Das Bewusstsein wird ausgeschaltet, und die schreibende Hand wird gleichsam von einer unsichtbaren Macht gelenkt, das Unbewusste gelangt an die Oberfläche.» So will der Franzose Isidore Lucien Ducasse – oder Comte de Lautréamont, wie er sich nannte – seine heute weitgehend vergessenen «Gesänge des Maldoror» geschrieben haben. Sein Held und Antigott Maldoror war für ihn die Personifizierung des Bösen und zerfleischte mit Vorliebe kleine Kinder. Er besetzte das Unterbewusste der Menschen und liess den schlimmsten Fantasien freien Lauf. Lautréamont prägte die Geisteswelt der Surrealisten; deren Vordenker André Breton hat sich auf ihn berufen.
Ihre Arbeiten sind zum Teil brandaktuell
Dazu entwickelte die deutsch-französische Schriftstellerin Ré Soupault ihre Gedanken in einem Radio-Essay. Dieses hatte sie Mitte der 1960er für den Hessischen Rundfunk unter dem Titel «Vorläufer der Moderne» geschrieben. Der Text ist nun in einem neuen Sammelband mit 13 anderen Aufsätzen in schriftlicher Form erschienen. Die Arbeiten lesen sich aus heutiger Sicht teilweise brandaktuell. So hat Soupaults Erkundung des Bösen nichts von ihrer Brisanz verloren, auch wenn Lautréamont höchstens noch Romanisten ein Begriff ist. Ihr schwärmerischer Text «Die Welt der Kelten» im gleichen Band wirkt dagegen hoffnungslos veraltet und einem rückwärtigen Weltbild verpflichtet.
Die in Pommern geborene Ré Soupault (1901–1996) besuchte das Bauhaus in Weimar und machte sich vor allem als Fotografin einen Namen. Sie lebte in den 1920ern und 1930ern in Paris, wo sie zu den Avantgardisten rund um das Café du Dôme in Montparnasse gehörte: das Lokal, wo Künstler wie Alberto Giacometti, Man Ray, Kiki de Montparnasse oder Max Ernst zu jeder Tages- und Nachtzeit verkehrten. Dort lernte die junge Ré den Surrealisten Philippe Soupault kennen, der sich kommunistischen Idealen verschrieben hatte. Die beiden blieben trotz etlicher Trennungen bis zum Lebensende ein Paar. Sie bereisten Nordafrika, wo sie vor der deutschen Wehrmacht flüchten mussten. Später lebte Ré Soupault in den USA und nach dem Krieg in Basel, wurde dort allerdings nicht heimisch.
Grosse Nähe zum Pazifisten Romain Rolland
Die Textsammlung belegt die Verbundenheit der Autorin mit Frankreich. Sie nimmt sich Themen an wie «Paris unter der Kommune. 18. März–28. Mai 1871». Oder «Der Weltbürger im Ersten Weltkrieg – Romain Rolland». Dieser pazifistische Schriftsteller und zeitweilige Weggefährte Lenins stand ihr besonders nahe. Sie übersetzte einen grossen Teil seines Gesamtwerks. Besonders aktuell erscheint ihre Auseinandersetzung über die gesellschaftliche Stellung der Frau. «Geht die Despotie des Mannes zu Ende?», fragt sie und schlägt einen grossen Bogen von der «Rolle der Frau in der europäischen Kultur bis heute». Ihr etwas überraschendes, aber plausibles Fazit: Die grossen historischen Verwerfungen wie die Reformation, die Französische Revolution oder die Machtergreifung der Bolschewiken brachten den Frauen gar nichts.
Buch
Ré Soupault
Geistige Brücken
Hg. Manfred Metzner
275 Seiten
(Wunderhorn 2022)