Elif Shafak denkt nach: Über «Einsamkeit, Wut und Schmerz». Über das Coronavirus, das «Hunderttausende tötete, Millionen arbeitslos machte und unser Leben von Grund auf veränderte». Über Menschen, die «Wahrheit und Wirklichkeit niedertrampeln». Sie wettert gegen Social Media und Politik, die von Emotionen geleitet werden. In ihrem Essay «Hört einander zu!» fordert sie dazu auf, sich gegenseitig mit Respekt zu behandeln.
Schnell gelesen und ebenso schnell vergessen
Die in London lebende Schriftstellerin ist die meistgelesene Gegenwartsautorin der Türkei. Ihre Werke wurden in über 50 Sprachen übersetzt. Der opulente Roman «Der Bonbonpalast» stammt von ihr. Darin erzählt sie von Bewohnern eines Istanbuler Mietshauses. In ihren Geschichten vermischt sie sufistische Mystik mit sinnlicher Poesie, die sie in europäische und türkische Lebenswelten einbettet. «Als Geschichtenerzählerin beschäftige ich mich instinktiv eher mit den ‹Rändern› als mit dem ‹Zentrum› und richte meine Aufmerksamkeit vor allem auf die marginalisierten, zu kurz gekommenen, entrechteten und zensierten Stimmen», schreibt sie nun. Doch «Hört einander zu!» wirkt wie ein rasch geschriebener Essay, in dem sich die Literatin mit den aktuellen Fragen der Zeit beschäftigt. Der Band hat rund 90 Seiten, ist schnell gelesen und ebenso schnell wieder vergessen. Kein Buch, welches nachhallt und zum Denken anregt, zu oberflächlich sind die dargelegten Gedankengänge. «Der Mensch – jeder Mensch – ist ein komplexes Wesen, denn er besteht aus vielen Schichten: Gedanken, Gefühlen, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Reaktionen, Bedürfnissen und Träumen», heisst es etwa, wenn sie über Herkunft sinniert. «Die Krise, die wir gerade durchleben, ist auch eine Sinnkrise», kommentiert sie die Pandemie. Sie erwähnt kurz George Floyd, den US-Afroamerikaner, der von einem Polizisten ermordet wurde. «Meinem Eindruck nach – und er wird zunehmend stärker – bestehen wir alle aus Schmerz, Gekränktsein und Einsamkeit, überzogen von Haut», kommentiert sie die Proteste, die nach Floyds Tod weltweit stattfanden – und tiefer in die Materie geht es dann kaum.
Gramsci, Steinbeck und wenig Shafak
Im Buch fehlen zeitdiagnostische, präzise Beobachtungen und stilistische Perlen. Da hilft es auch wenig, dass sie den italienischen Intellektuellen Antonio Gramsci, den Mussolini ins Gefängnis werfen liess, zitiert oder den US-Schriftsteller John Steinbeck bemüht.
Etwas interessanter wird es gegen Ende, wenn Shafak dazu aufruft, hinauszugehen, sich mit seinen Mitmenschen zusammenzuschliessen und denen beizustehen, die Leid erfahren. «Teilnahmslosigkeit, dieses scheinbar so stille Gefühl, ist in Wahrheit das wohl gefährlichste überhaupt», warnt sie – und einen kurzen Moment muss man an Stéphane Hessels berühmte Pamphlete «Empört Euch!» und «Engagiert Euch!» denken.
Elif Shafak
Hört einander zu!
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
96 Seiten
(Kein & Aber 2021)