kulturtipp: Peter Stamm, Sie haben Ihren Roman «Nacht ist der Tag» über acht Jahre lang immer wieder für längere Zeit weggelegt. Warum haben Sie sich so schwer getan mit dem Stoff?
Peter Stamm: Am Anfang stand die Frage: Inwiefern stimmen wir mit unserem Körper überein? Für den Roman habe ich lange nicht die passende Perspektive und den richtigen Spannungsverlauf gefunden. Es ist ja die Geschichte einer Heilung, was als Stoff uninteressant ist, weil es böse anfängt und immer besser wird. Während des Schreibprozesses habe ich mich mit einer Frau getroffen, deren Gesicht bei einem Unfall entstellt worden war. Sie erkannte sich darin wieder und ermunterte mich zum Weiterschreiben.
Im Roman geht es um den Gegensatz zwischen Körper und Persönlichkeit, der sich nach dem Unfall bei der Fernsehmoderatorin Gillian einstellt. Mit dem Gesichtsverlust geht der Identitätsverlust einher. Welche Entwicklung macht sie durch, um zu sich selbst zu finden?
Ich glaube nicht, dass Menschen sich massiv verändern. Es geht eher darum, wie nahe man bei sich selbst ist, und wie weit man das Leben lebt, das einem entspricht. Das macht Gillian am Anfang nicht, sie rutscht in dieses auf Äusserlichkeiten bedachte Leben rein. Am Schluss erreicht sie eine Erkenntnis und ist nicht mehr dieselbe wie am Anfang.
Was hat Sie an der Figur Gillian besonders interessiert?
Das Leben in der Öffentlichkeit hat mich schon immer fasziniert. Es geht ja in all meinen Büchern um die Frage von Fiktion und Realität, Bild und Wirklichkeit. «Nacht ist der Tag» ist eine neue Variation dieses Themas. Gillian wird nicht nur von den andern falsch wahrgenommen, sondern auch von sich selbst. Es ist nicht so einfach, zu wissen, wer man ist. Eine öffentliche Präsenz kann vielleicht eine Art Erleichterung sein, da man von aussen eine Sanktion erfährt für das, was man tut. Ich weiss nicht, wie öffentliche Personen mit dem umgehen: Ob sie meinen, sie seien so, wie sie die «Schweizer Illustrierte» darstellt, oder ob sie ihre Realität erkennen. Diese Frage interessiert mich.
Ihnen selbst entspricht das öffentliche Auftreten weniger …
Ja, ich weiche dem aus. Meine Lesungen mache ich zwar gerne, aber ich würde nie zu «Aeschbacher» gehen, weil ich das Gefühl habe, das ist nicht das echte Leben, sondern ein Lebensersatz.
Manchmal geht von Ihren Figuren eine eigenartige Kälte aus. Dies zeigt sich auch in Ihrer reduzierten, klaren Sprache. Überflüssiges gibt es darin nicht. Warum diese Distanz?
Ich glaube, um den Menschen gerecht zu werden, muss man sich herausnehmen. Ich respektiere die Figuren, indem ich sie zeige, wie sie sind. Wenn ich mich vor sie stelle, werde ich ihnen nicht gerecht. Der neutrale Blick ist wichtig, um nicht schon von vornherein ein Urteil zu fällen.
Eine Kälte besteht auch in den Paarbeziehungen, die Sie in Ihren Büchern beschreiben. Es geht um die Leere und Distanz, die darin einkehrt. Haben Leidenschaft und Liebe ausgedient?
Für die Literatur sind die glücklichen Zeiten weniger interessant, die kann man in drei Sätzen abhandeln. Und Beziehungen sind ja tatsächlich immer ein dauerndes Ausbalancieren zwischen Nähe und Distanz. Wir können uns einem Menschen nicht völlig öffnen, auch wenn wir die Sehnsucht danach haben. Eine völlige Symbiose bei Paaren finde ich beängstigend. Man verliert die eigene Identität, wenn man mit dem andern verschmilzt.
Sie lassen Ihre Figuren treiben, scheint es. Wissen Sie beim Schreiben jeweils, wohin es diese ziehen wird?
Bei meinen ersten Romanversuchen, die ich nie veröffentlicht habe, habe ich das noch nicht gemacht, darum wurden die Figuren mechanisch. Ich erwarte von einem Buch, dass es das Leben so zeigt, wie es ist. Auch im neuen Roman passiert Unerwartetes: Dass Gillian Entertainerin in einem Robinsonclub wird, hat mich selbst überrascht. Manche Kritiker haben aber die Ironie dahinter nicht verstanden.
Die Ironie spricht man Ihnen oft ab in Kritiken …
Ja, seltsamerweise. Natürlich hat es eine Ironie, dass jemand, der auf Hochkultur macht, im Robinsonclub landet. Die Nonstop-Unterhaltung in diesen Hotels ist schlimm, ich habe das zur Recherche selbst ausprobiert. Man muss vielleicht genau lesen in meinen Texten, um die Ironie darin zu erkennen.
Sie wurden als erster Schweizer für den Man Booker International Prize nominiert. Wie kams zu dieser Aufmerksamkeit im englischsprachigen Raum?
Der englischsprachige Raum öffnet sich langsam gegenüber internationaler Literatur. Meinen Erfolg habe ich aber auch meiner Verlegerin und ihrer Lobby-Arbeit zu verdanken. Und es sind wohl auch meine universellen Themen, die ansprechen. Alles, was in Richtung Sprachexperiment geht, hat es hingegen schwierig ausserhalb der Schweiz und Deutschland.
Lesungen
Fr, 25.10., 11.00
Volkshaus Basel
Mo, 28.10., 20.00
Buchhandlung Hirslanden Zürich
Di, 29.10., 19.00
Kellertheater Winterthur
www.peterstamm.ch
Der Menschenkenner
Peter Stamm ist 1963 in Scherzingen TG geboren. Nach einer kaufmännischen Lehre und der Arbeit als Buchhalter hat er die Matura nachgeholt und einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie studiert. Nach Abbruch des Studiums hat er sein Interesse am Menschen hauptsächlich aufs Schreiben verlegt. 1998 erschien sein erster Roman «Agnes». Seine Erzählungen und Romane wurden in 36 Sprachen übersetzt.
Im neusten Roman «Nacht ist der Tag» steht die Fernsehmoderatorin Gillian im Mittelpunkt, die nach einem Unfall äusserlich wie innerlich wieder zu sich selbst finden muss. Ihre Perspektive wechselt ab mit der des Künstlers Herbert. Ihm hatte sich Gillian vor dem Unfall für Aktfotografien zur Verfügung gestellt – in der Hoffnung, dass er hinter ihre Maske blicken könne. Einige Jahre nach dem Unfall treffen sich die beiden im Engadin wieder. (bc)
Peter Stamm
«Nacht ist der Tag»
256 Seiten
(S. Fischer 2013).