«Es ist herzzerreissend»
Obdach in der Notunterkunft: Der neue Dokumentarfilm «L’Abri» von Fernand Melgar zeigt ungeschönte Blicke auf eine Wirklichkeit, die in der Wohlstand-Schweiz gerne übersehen wird.
Inhalt
Kulturtipp 21/2014
Letzte Aktualisierung:
01.10.2014
Urs Hangartner
Eine unterirdische Zivilschutzanlage mit dem Charme eines Bunkers. Sie dient dem städtischen Sozialdienst von Lausanne während der Wintermonate als Notunterkunft für Obdachlose. Für fünf Franken gibt es ein Bett und eine warme Mahlzeit. Wer will, kann gratis duschen.
«Alte, Frauen und Kinder zuerst»: Das ist die Devise in der Lausanner «Abri». Denn die Platzzahl ist beschränkt. Abend für Abend wiederholt sich das gleic...
Eine unterirdische Zivilschutzanlage mit dem Charme eines Bunkers. Sie dient dem städtischen Sozialdienst von Lausanne während der Wintermonate als Notunterkunft für Obdachlose. Für fünf Franken gibt es ein Bett und eine warme Mahlzeit. Wer will, kann gratis duschen.
«Alte, Frauen und Kinder zuerst»: Das ist die Devise in der Lausanner «Abri». Denn die Platzzahl ist beschränkt. Abend für Abend wiederholt sich das gleiche Spiel: Menschen wer den abgezählt und selektioniert; manche müssen draussen bleiben. 50 können rein, doch oftmals begehren 70 Leute Einlass. Da drängeln sich die Randständigen, Migranten aus Afrika, die Roma-Familie aus Rumänien. Oder das Paar aus Spanien, das in der Schweiz auf Arbeit hofft: «Wir kamen hierher, um ein besseres Leben zu finden, und wo sind wir gelandet? Auf der Strasse!» Auch ein Senegalese hatte andere Vorstellungen. In seiner Heimat sage man über die Schweiz, sie sei «das Rolex-Land».
Nahe bei den Menschen
Glücklich, wer im Winter ein Dach über dem Kopf hat. Und sei es nur für eine Nacht. Die anderen, die Nicht-Auserwählten, müssen schauen, wo sie bleiben. Ihre Schlafplätze sind selbst in der kalten Jahreszeit Parkbänke und Unterführungen.
Regisseur Melgar ist mit seiner Dokumentation nahe bei den Leuten. Er bildet das Geschehen vor und in der Unterkunft ab, konzentriert sich auf das Schicksal Einzelner und zeigt Mitarbeiter, denen der Job schwerfällt. Am liebsten würden sie alle reinlassen. Aber es geht nicht. «Es ist herzzerreissend.» Sie sind keinesfalls teilnahmslos. Sie wollen ein Herz haben und müssen doch Härte zeigen.
Die Bilder und Töne sprechen für sich. Fernand Melgar verzichtet auf jeglichen Kommentar und führt keine Interviews. Alles erklärt sich aus den Situationen, die der Film aus dieser traurigen Lebenswelt vermittelt.
Mit «L’Abri» schliesst der Westschweizer Melgar eine Trilogie ab: Zuerst vermittelte er Blicke in ein Empfangsheim («La Forteresse»). Dann kam der Alltag in einem Ausschaffungsgefängnis («Vol Spécial», 2011) und jetzt die Notschlafstelle allesamt «unangenehme» Wirklichkeiten. Die eidgenössische Image-Agentur Präsenz Schweiz findet Fernand Melgars filmische Sozialreportage übrigens nicht so toll. Jedenfalls scheint «L’Abri» dem verantwortlichen Direktor Nicolas Bideau – der frühere Filmchef des Bundes – ungeeignet, um im Ausland ein genehmes Schweiz-Bild zu vermitteln. Mit dem Effekt, dass Präsenz Schweiz die Unterstützung für den Vertrieb des Films jüngst verweigerte.