Vor kurzem sortierte ich die alten DVDs und stiess auf das letzte Wüten des Literaturpapstes MRR, das dem literarischen Quartett den Garaus machte, der populärsten Literatursendung Deutschlands. Die Vorwürfe an Sigrid Löffler waren infam, auch ein bisschen lächerlich, denn wie konnte diese Zeigefinger-Autorität im Opa-Alter einer viel jüngeren, versierten Kollegin vorhalten, sie verstehe nichts von Erotik und Sex? Tempi passati, dachte ich traurig, auch ein wenig amüsiert. Und dann fragte ich mich, wie kommt es, dass mir dieses schäumende Dokument dermassen vergangen vorkommt? Es sind doch seither bloss ein paar Jährchen vorübergezogen.
Sublime Rhetorik oder Bildungsgerassel, artistischer Hahnenkampf oder stringente Dialektik, all das rollte damals vor der staunenden Zeitgenossin ab, ob im Namen der Erkenntnis oder der Einschaltquote, bleibe dahingestellt. Zum Beispiel der legendäre «Club zwei» im ORF: Dort lieferten sich Kenner und Liebhaber, Gegner und Besserwisser geisteswissenschaftliche Schlachten, wie unsere Fussballer pusteten, preschten und dribbelten sie für oder gegen eine Verszeile von Hölderlin. Auch dieses TV- Nachtschattengewächs stieg aus einer tiefen Vergangenheit, die gar nicht lange zurückliegt. Alles andere als telegen kam mir die Sendung vor, mit lauter ungeschminkten Rednerschaften, deren Achselschweiss man dem Bildschirm zu entnehmen glaubte.
Was machte jene ungestüme, ja rohe Talkshow so faszinierend? Warum war das schrankenlose Quartett so unerbittlich erfolgreich? Die Antwort floss ebenfalls vom Bildschirm, ausgerechnet vom Schweizer «Literaturclub», der plötzlich zu einer Hochform der Streitlust auflief, und mir eineinhalb Stunden ungeteilten Genusses bereitete, indem er sich ausufernd und gescheit über seine eigene Aufgabe uneinig war. Soll die Sendung möglichst viele Menschen zum Lesen anregen? Oder soll sie zeigen, was Literatur, abgesehen von Unterhaltung, auch und vor allem sein soll, nämlich die überaus anspruchsvolle, komplexe Formfindung für ein überaus anspruchsvolles komplexes Phänomen? Auch wurde festgestellt, dass solch ein überaus anspruchsvolles komplexes Unternehmen einen Namen hat, nämlich: Kunst.
Der Groschen fiel mit jenem Wort, das jetzt als vordringliches Kriterium unter Kritikern, an Textrunden und wohl auch in den einschlägigen Kommissionen den Ton angibt: Funktionieren. Es fiel gottlob nur einmal, und im Munde des Philosophen klang es fremd und sonderbar und verschaffte mir darum die Erkenntnis des Augenblicks. Unmittelbarkeit, Authentizität macht die Talkshow, diese ungebremst brodelnde Vitalität, die entsteht, wenn ein paar kluge Köpfe vom Fach um eine Bücherbeige herumsitzen und einander ins Wort fallen, vor lauter Eifer, das Ei des Sokrates zu finden. Oder den Feldstecher des Kolumbus. Darum geht es, darum ginge es, um das unpolierte, unzensurierte Nichtschönreden von Literatur und Politik, mit einer Einstellung von Kamera und Moderation, die keine Rücksicht auf Opportunität nimmt.
Es geschieht also auch heute noch, manchmal, gelegentlich. Dass Literatur am Fernsehen als ein Abenteuer der Unwägbarkeit vorkommt, dessen Gelingen nicht das Können ist. Das Reden vom Funktionieren trifft allenfalls das Können, von dem auch heuer wieder Busch und Tal erfüllt sind, sodass sich dieses Können zu einem gewieften, überaus erfolgreichen Selbstläufer entwickelt. Der beisst sich bloss noch in den Schwanz. Soll mans schon den neuen Manierismus der Selbstreferenz nennen? Ach nein, das klingt zu hochgestochen, innerhalb eines unter dem Druck des Marktes handelnden und prämierenden Betriebs.
Es funktioniert – die minimale Qualitätssicherung. Noch die verantwortungsvollsten Kritiker sind sich wohl kaum bewusst, wie sehr ihr Instrumentarium schon der Facebook-Nomenklatur gleicht. Die Weltliteratur funktioniert nicht, sie ist voller Mühsale und Durststrecken, ja, mit Verlaub auch voll quälender Langeweile.
Weltliteratur ist, frei nach Robert Musil, wenn Seinesgleichen geschieht.
Dagegen das Funktionieren: Ein Fungizid für das Schreiben, es treibt ihm auf Anhieb alle Flausen aus, von denen der Text erst einmal lebt, mit dem er atmet, wenn er gerade geboren wird. Die Unverfrorenheit, die aus der Unsicherheit schlüpft: Was für eine Lust am Text ist doch einmal gewesen, Roland Barthes nannte sie in seinem berühmten Aufsatz von 1973 das Kamasutra der Sprache.
Letzthin besuchte ich einen lungenkranken Schreibfreund aus alten Tagen. Was er geschrieben hat, gehört zum Besten, was die deutschsprachige Literatur seit den Siebzigerjahren hervorgebracht hat. Nach ein paar Minuten der Vorsicht waren wir wieder leidenschaftlich in unserem Element, dem Schreiben. Vier geschlagene, ja, ich muss das so sagen, geschlagene Stunden haben wir uns gegenseitig gefordert, nein, hab ich den sensiblen Gastgeber strapaziert. Ich ging mit Gewissensbissen nach Hause. Bestürzt, beindruckt, bereichert von diesem Gespräch jenseits jeder dramaturgischen Disziplin und medizinischen Vernunft, es war ein Hin und Her über alle vorrätigen Energien hinaus. Weil der eine Teilnehmer, wie er betonte, nicht mehr funktioniert. Die Quelle sei versiegt, meinte er. Eine Behauptung, der ich heftig widersprach. Was lebt, und bewegt, funktioniert nicht.
Isolde Schaad
Die Schriftstellerin Isolde Schaad, geboren 1944 in Schaffhausen, lebt in Zürich. Sie ist Verfasserin von Essays, Kolumnen, Reportagen, Erzählungen, Romanen und mehreren Auftragsstücken für die Bühne. 1997 war sie Gastautorin an der Washington University, St. Louis, USA. Ihr Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt ist ihr Roman «Robinson + Julia ... und kein Liebestod» im Limmat Verlag erschienen.