Literatur vermag einiges zu bewirken. Zu den schönsten Effekten gehört sicher, dass man durch die Lektüre eines guten Buchs in andere Lebenswelten, Perspektiven, Denkweisen eintauchen und darin das Allgemeinmenschliche entdecken kann. Zum Beispiel in den Kosmos des US-amerikanischen Autors Jamel Brinkley: In seinen Kurzgeschichten im Band «Unverschämtes Glück» erzählt er fast durchgängig aus der Perspektive von schwarzen Männern. Seine Protagonisten leben in der New Yorker Bronx oder in Brooklyn, geben sich gegen aussen hart, sind aber vor Unsicherheiten nicht gefeit. Jamel Brinkley leuchtet in ihr Innenleben und in ihre Vergangenheit, die oft geprägt ist von einer schwierigen Beziehung zum Vater, von der Suche nach sich selbst und nach ihrer schwarzen Identität.
Annäherung durch Capoeira-Rhythmen
Da sind zum Beispiel die beiden Brüder Carlos und Eric, die sich bei einem Treffen für Capoeira, der brasilianischen Kampfkunst, nach vielen Jahren wieder näherkommen. Erst nach und nach erschliesst sich, warum den Ich-Erzähler ein schlechtes Gewissen plagt, warum er das Gefühl hat, er hätte seinen kleinen Bruder damals in der Sozialbausiedlung in der South Bronx mit dem unberechenbaren Stiefvater nicht alleine zurücklassen dürfen. Mit zarten Strichen zeichnet Brinkley diese langsame Annäherung, die sich auch durch die Capoeira-Rhythmen und die Worte der gesungenen Lieder äussert.
Frauen spielen in Jamel Brinkleys Erzählungen nur Nebenrollen: als Mütter, Freundinnen, Lustobjekte. Aber auch hier zeigt der Autor die ganze Bandbreite, unterwandert die tradierten Geschlechterrollen und entsprechende Klischees. Zum Beispiel in der ersten Erzählung «Wie prickelnd», in der zwei Studenten an einer Party zwei Mädchen anflirten – und trotz unbeholfenen Anmachsprüchen sogar zu ihnen nach Hause eingeladen werden. In trunkener Stimmung schlendern sie durch die Nacht, bis plötzlich ein knurrender Hund auftaucht, der zum Sprung ansetzt. Es sind die beiden Frauen, welche die bedrohliche Situation mit aggressivem Eingreifen meistern. Und auch später werden die beiden die Oberhand behalten und bei den Männern nebst Lust einige Verunsicherungen auslösen.
Von den Erwartungen der Gesellschaft
Von solchen Unsicherheiten und Sehnsüchten erzählt der 1975 geborene New Yorker Autor in all seinen Short Stories. Immer geht es auch um die Erwartungen der Gesellschaft, aber auch an sich selbst als Mann mit schwarzer Hautfarbe. «Wir zogen beide eher üppige, kurvige Frauen vor – teils, vermute ich, weil schwarze Typen das angeblich tun. Die Vorliebe ist gleichsam Bestätigung einer schwarzen Herkunft, unsere Art, uns Authentizität zu bescheinigen», hält etwa einer der beiden Studenten in der ersten Erzählung fest. Und was hier etwas theoretisch klingt in Anbetracht eines heissen Flirts, vermag Brinkley meist lebensnah und mit Empathie für seine Figuren rüberzubringen. In seinen Erzählungen fokussiert er auf bestimmte Momente des Glücks, der Verletzlichkeit oder der Annäherung zweier Figuren, wobei irritierende Brüche wie in der ersten Geschichte die Würze ausmachen. Nicht umsonst nahmen die Kritiker sein Debüt durchwegs positiv auf, und es wurde für den National Book Award nominiert. Eintauchen lohnt sich!
Buch
Jamel Brinkley
Unverschämtes Glück
Aus dem US-Amerikanischen von Uda Strätling
336 Seiten
(Kein & Aber 2019)