Erzählband: Wunderliche Welt
Die dänische Autorin Dorthe Nors lässt in ihrem neuen Erzählband «Die Sonne hat Gesellschaft» viel Platz für die eigene Fantasie.
Inhalt
Kulturtipp 08/2020
Babina Cathomen
Die kleine Irritation ist Programm in ihren Geschichten: Dorthe Nors erzählt von Menschen, wie sie einander begegnen und wo die Absurditäten des Alltags lauern. In ihrer Geschichte «Fremde Vögel» führt sie etwa in die Dünen nahe des dänischen Nationalparks Thy. Der Ich-Erzähler besucht hier Anja, mit der er bisher nur eine einzige Nacht verbracht hat. Sie hatte zu einem einsamen Schäferstündchen in ihr Sommerhaus eingeladen. Doch a...
Die kleine Irritation ist Programm in ihren Geschichten: Dorthe Nors erzählt von Menschen, wie sie einander begegnen und wo die Absurditäten des Alltags lauern. In ihrer Geschichte «Fremde Vögel» führt sie etwa in die Dünen nahe des dänischen Nationalparks Thy. Der Ich-Erzähler besucht hier Anja, mit der er bisher nur eine einzige Nacht verbracht hat. Sie hatte zu einem einsamen Schäferstündchen in ihr Sommerhaus eingeladen. Doch als er ankommt, ist ihre ganze Familie da. Wegen einer «Doppelbuchung», die Anja vergessen hatte, ist er plötzlich mittendrin im Familienfest mit lauter Unbekannten. Zu seinem Unwohlsein trägt auch der Schwager bei, der den als Naturschützer arbeitenden Ich-Erzähler mit Fragen zu Weisswangengänsen und Wölfen bombardiert und ihm unvermittelt einen Seitenhieb versetzt: «Und du sollst wissen, dass wir Anja sehr gernhaben. Vielleicht solltest du es lieber auf einem Witwenball im Sonderjylland versuchen?» Der Ich-Erzähler reist schliesslich ab, aber mit einer kleinen Andeutung lässt die Autorin auf eine gemeinsame Zukunft der beiden schliessen.
Dorthe Nors’ kurze, prägnante Geschichten tönen einiges an – und lassen vieles offen. So fragt man sich etwa auch in der Geschichte «Auf einem Hochstand», was wohl mit dem Mann passieren wird, der schon seit einem Tag und einer Nacht mit verletztem Fuss und ohne Telefon im Wald festsitzt. In der nebelverhangenen Landschaft hat er auf seinem Hochstand viel Zeit, um über die Beziehung zu seiner Frau nachzudenken, von der er sagt: «Sie hat viele Hobbys, aber er weiss nicht, ob sie Gefühle hat.»
Das Rätselhafte ist ein prägendes Element
In Nors’ leisen Geschichten mit humorvollem Unterton sitzt jeder Satz. Die 50-jährige Autorin, die an der dänischen Westküste lebt, beherrscht die Kunst der Kurzgeschichten. Nötig seien eine gute Technik und Präzision, ein gutes musikalisches Gehör, sagte sie in einem Interview. Für ihren Roman «Rechts blinken, links abbiegen» war Dorthe Nors für den Man Booker International Prize nominiert. In ihren Werken sind die kleinen Fragezeichen und Irritationen, das Rätselhafte ein prägendes Element. «Wenn wir verwundert sind, hinterfragen wir Dinge», sagt die Schriftstellerin. Dieses kindliche Gefühl öffne Türen in den Köpfen: «Wir werden sanfter, neugieriger, offener, rücksichtsvoller.» Und nicht zuletzt macht es Spass, in ihre Geschichten einzutauchen, ihre Figuren ein kleines Stück weit zu begleiten und die eigene Fantasie spielen zu lassen.
Buch
Dorthe Nors
Die Sonne hat Gesellschaft
Aus dem Dänischen von Frank Zuber
144 Seiten
(Kein & Aber 2020)